Für clevere Finanzentscheidungen: Hier liefern wir nochmal die spannendsten Fragen aus unserem Wochenblatt-Online-Finanzseminar mit fundierten Antworten von unserem Referenten Professor Hartmut Walz, unabhängiger Finanzexperte, Blogger, Autor von "Einfach genial entscheiden im Falle einer Finanzkrise".
Frage: Wieso sind Zertifikate nicht so sicher? Und wenn sie unsicher sind, sollte ich meine Zertifikate jetzt lieber verkaufen?
Antwort (Prof. Hartmut Walz): Die wenigsten privaten Anleger sind über das Ausfallrisiko von Zertifikaten ausreichend informiert. Anlagezertifikate sind nämlich rechtlich gesehen Anleihen, also schuldrechtliche Wertpapiere, bei denen die Anleger/Geldgeber die Gläubiger sind. Und die herausgebende Bank ist der Schuldner dieser Anleihe. Zwar ist das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis bei allen Einlagen (Spar-, Giro-, Festgeld-, Termingeldeinlagen) gegeben. Jedoch sind Einlagen bis 100000 € pro Kunde und Kreditinstitut durch eine staatliche Garantie sowie zusätzliche Sicherungseinrichtungen der Bankenverbände geschützt. Zertifikate-Gläubiger sind hingegen nicht geschützt. Sie sind ja keine Einleger, sondern Anleger und tragen das Ausfallrisiko bei Insolvenz ihrer Bank oder Sparkasse voll.
Anleger haben das Nachsehen
Die enorme Vielfalt von Zertifikaten (es gibt nach Expertenaussagen weit über 1 Million unterschiedliche Typen, aber ich selbst habe bei 350000 aufgehört zu zählen) sollte Sie also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie das Insolvenzrisiko der herausgebenden Bank tragen und dafür auch keine besondere „Belohnung“ im Sinne einer Risikoprämie erhalten. Sollte die Bank also – z. B. im Zusammenhang mit der aktuellen Corona-Krise und dem vielleicht bevorstehenden Ausfall von vergebenen Unternehmenskrediten in Schwierigkeiten geraten, dann haben Sie als Anleger das Nachsehen.
Dieses Ausfallrisiko des Zertifikate-Herausgebers wurde über Jahre hinweg nicht ernst genug genommen und – gerade von den primär vertriebsorientierten Kundenberatern als "rein theoretisch" abgetan. Denn für die Vermittlung von Anlagezertifikaten erhielten die Bank- und Sparkassenberater sehr attraktive Provisionen, sie waren da nicht so ganz neutral und kundenorientiert. Als dann bei der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers in Insolvenz geriet, schauten auch deutsche Privatanleger "in die Röhre". Sie verloren über 1 Mrd. €, die sie – motiviert von provisionsorientierten "Kundenberatern" deutscher Banken und Sparkassen in Lehman-Anlagezertifikate investiert hatten. Hätten Sie hingegen traditionelle Investmentfonds oder ETFs (Exchange Traded Funds = börsengehandelte Investmentfonds) eines Finanzinstitutes besessen, so wären Sie von dessen Insolvenz nicht betroffen gewesen. Denn die in Fonds oder ETFs befindlichen Anlagewerte werden von sogenannten Treuhändern "bewacht" und ruhen insolvenzsicher in einem Sondervermögen.
Anleihen sind verbraucherunfreundlich
So richtig erholt hat sich der bundesdeutsche Markt für Anlagezertifikate seit dem Lehman-Bankrott bis heute nicht. Er erscheint – im Vergleich zu anderen Anlageprodukten wie z. B. Investmentfonds mit rund 70 Mrd. € Euro als vergleichsweise gering. Aus Sicht eines neutralen und unabhängigen Finanzexperten (der nicht von Provisionen lebt) sind das jedoch trotzdem noch 70 Mrd. € zu viel. Und dass Finanzdienstleister ihren Privatkunden Zertifikate nun unter anderem Namen wie "Zinsdifferenz-Anleihe", "Protect-Anleihe", "Bonitätsanleihe", "Nikolaus-Anleihe", "Oktoberfest-Anleihe" oder "Duo-Garantie-Zins-Anleihe" verkaufen, macht die Sache nicht besser, sondern stellt meines Erachtens eine bewusste Kundentäuschung da. Mit dieser Auffassung bin ich als Artikelautor keineswegs alleine – auch die Verbraucherzentralen und zum Beispiel der Europaabgeordnete und Finanzmarktexperte Sven Giegold halten Anlagezertifikate für völlig überflüssige und verbraucherunfreundliche Produkte.
Ich selbst mache um Anlagezertifikate einen großen Bogen und kann Ihnen versichern, dass ich ein völlig zertifikatefreies Anlageportfolio mein eigen nenne. So ist es und so soll es auch bleiben.
Zertifikate jetzt lieber verkaufen?
Die zweite Teilfrage, ob Sie bestehende Anlagezertifikate lieber verkaufen und Ihr Geld in andere Anlageprodukte umschichten sollten, beantworte ich mit einem klaren "Ja"! Es mag einige wenige Ausnahmen geben, beispielsweise wenn das Zertifikat ohnehin in Bälde ausläuft, so dass Sie die durch Verkauf entstehenden Zusatzkosten vermeiden können. Abgesehen von solchen Ausnahmen empfehle ich Ihnen jedoch lieber ein Ende mit Schrecken (begrenztem Verlust) als ein Schrecken ohne Ende zu wählen.
Und dabei habe ich Ihnen in diesem Beitrag nur von dem Ausfallrisiko von Zertifikaten berichtet. Auf weitere Nachteile wie versteckte Kosten, oftmals schlechte Handelbarkeit und hohe Spannen zwischen An- und Verkaufspreisen sowie intransparente Konstruktionen bin ich noch überhaupt nicht eingegangen. Wie finden Sie es wenn ein Zertifikatehersteller selbst die Preise für An- und Verkauf bilden darf. Hat das nicht was von Bock-zum-Gärtner-Logik?
Um bei diesem Thema humorvoll zu enden. Die Insolvenz von Lehman-Brother mit den hohen Verlusten der Zertifikate-Anleger wird gerne als ein Jahrhundert-Risiko, also ein extrem unwahrscheinliches Ereignis bezeichnet. Ich fotografiere mit Freude die Hochwasserstände unterschiedlicher Flüsse, die an Brückenpfeilern oder öffentlichen Gebäuden markiert werden. Und stelle fest, dass die Jahrhundert-Hochwasserstände sich eher so alle paar Jahre ereignen. Mit dem Hochwasser ist es wie mit den Zertifikaten. Besser Sie sind weit weg, wenn das Risiko eintritt.
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