Die längste Zeit unserer Geschichte lebte die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur „auf dem Land“, sondern unmittelbar vom Land. Sie lebte nicht nur von den Produkten der Landwirtschaft, sondern von der Landwirtschaft selbst. Sie lebte nicht nur von Nutztieren, sondern alltäglich mit Nutztieren. Dann wurde alles anders. Der industriellen Revolution ging eine agrarische voran, die es einem stetig schrumpfenden Anteil an Landwirten erlaubte, einen stetig größeren Anteil von Industriearbeitern und Büroangestellten zu ernähren. Erst das ermöglichte jene Metropolen, in denen bald, bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts, mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung leben werden.
Wettlauf der Logistik
Schon die Stadtplaner des 19. Jahrhunderts sahen es als eine logistische Herausforderung, genug Nahrungsmittel in die Städte zu schaffen. Doch selbst mit den Mitteln der Transportrevolution des Dampfzeitalters, Konserven und Kühlung vermochten sie mit dem Wachstum der Städte kaum Schritt zu halten. Um 1900 stand ihnen die Pferdescheiße buchstäblich bis zum Hals. Sie wäre ihnen über den Kopf gewachsen, wenn nicht das Automobil das Problem aus der Welt geschafft hätte. Mit dessen durchwachsenem Segen führen wir diesen logistischen Wettlauf bis heute.
Die Corona-Krise hat uns nun vor Augen geführt, was unsere Städte am Leben erhält: Nicht der Strom des Kapitals an den Börsen oder der Strom der neuesten Ideen aus den Köpfen der „Creative Class“, sondern der stetige Strom von Lkws vom Land zu den (Super)märkten. Die durften selbst im härtesten Lockdown nicht schließen. Keine Stadt kann sich länger als ein paar Tage aus den Vorräten versorgen, die sich in den Oberschränken der Designerküchen finden.
„Es gab nie einen Lockdown“
Noch nie waren so viele Menschen mit solcher Selbstverständlichkeit vom täglichen Funktionieren eines durchindustrialisierten, agrarischen Systems und einer hochgetakteten Marktlogistik abhängig wie heute. „Es gab nie einen Lockdown“, hat der britische Publizist J. J. Charlesworth festgestellt. „Es gab nur Leute aus der Mittelklasse, die sich versteckt haben, während ihnen arbeitende Menschen ihr Zeug brachten.“
Die Ahnung dieser Abhängigkeit und der eigenen Verletzlichkeit mag im Unbewussten eine Rolle gespielt haben, wenn sich gerade die urbane, wohlhabende Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten das Essen zu ihrem Distinktionsinstrument ausgebaut hat – also zu einem Mittel, sich von anderen abzuheben. Ging es anfangs noch darum, sich „gesund“ im diätischen Sinne zu ernähren, wurde daraus ein „gesund“ in einem diffus (öko-)biologischen, neuerdings auch global „nachhaltigen“ Sinn: Nicht mehr nur die eigene Gesundheit, sondern die „eine“ Gesundheit des globalen Mensch-Umwelt-Systems steht an der Ladentheke auf dem Spiel – besonders, wenn es die Fleischtheke ist.
Mit der Ökologie verbunden?
Ausgerechnet jene gesellschaftliche Schicht, die am wenigsten mit der Nahrungsmittelproduktion und den Produktionsverhältnissen in Landwirtschaft und Handel in Berührung kommt, hat das Essen als Statussymbol entdeckt. „Du bist, was du isst“ – dieser Satz hat heute mehr denn je mit sozialer Zugehörigkeit zu tun.
So macht sich ausgerechnet jene Schicht, die in ihrem Leben wahrscheinlich noch keinen Tag mit einem Nutztier verbracht hat, am meisten Gedanken über Tierwohl. „Bambi-Syndrom“ nennt der amerikanische Anthropologe Matt Cartmill diese größtmögliche Identifikation bei gleichzeitig größtmöglicher Entfremdung.
Natur ist nur noch ein Themenpark
Wer dauernd in klimatisierten, künstlich beleuchteten und angeblich „smarten“ Gebäuden im Homeoffice zwischen virtuellen Meetings und Netflix pendelt, für den ist das Essen tatsächlich die einzige Verbindung mit der Ökologie des Planeten, die er überhaupt noch wahrnimmt. Ansonsten konsumiert er „Natur“ nur mehr als Themenpark, mit ähnlich geringer Authentizität.
In der Umarmung der leidenden Kreatur auf Distanz und dem „bewussten“ Einkauf im Bioladen bricht ein Phantomschmerz hervor, der den vom Land vertriebenen Städter seit Beginn der Industrialisierung plagt. Der Ausweg aus der Misere könnte paradoxerweise genau dort zu finden sein, wo die, die weiterhin mit der Biosphäre arbeiten und die, die sie nur mehr konsumieren, sich eben nicht mehr treffen: auf dem Markt.
Verlasst die ideologischen Blasen!
Die lange Logistikkette trennt eben auch. Die Zukunft aber könnte einer Allianz von bewussten Konsumenten und nachhaltigen Produzenten gehören, wenn sie es schaffen, ihre ideologischen Blasen zu verlassen und die Hindernisse zu überwinden, die zwischen ihnen stehen.
Unser Lesetipp
Kürzlich ist von Ilja Steffelbauer das Buch „Fleisch: Weshalb es die Gesellschaft spaltet“ im Brandstätter Verlag erschienen (ISBN 978-3-7106-0507-9, 216 Seiten, 22 €).