Kontrovers – Pressestimmen

Das Land nach der Wahl: „Wer auch immer am Ende regiert“

Nach der Bundestagswahl haben sich nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Räumen die Gewichte deutlich verschoben – ein Blick in die Medienkommentare.

ALLGEMEINE ZEITUNG (Mainz)
CDU und CSU haben ihren Anspruch als letzte verbliebene Volkspartei in Europa unwiederbringlich verloren. Und erstmals kommt es bei der Regierungsbildung nicht so sehr auf die Partei an, die am Ende den Kanzler stellen wird, sondern auf die vermeintlichen Juniorpartner Grüne und FDP. Für die Zerstörung der CDU ist kein durchgeknallter Influencer verantwortlich. Das hat sie schon selbst geschafft. Sie hat sich erkennbar für den falschen Kanzlerkandidaten entschieden. Dabei ist Armin Laschet nicht nur Opfer seiner Ungeschicklichkeiten geworden. Seine Entscheidung für einen Wahlkampf ohne jede inhaltliche Profilierung war der zweite große Fehler. Das hat den Eindruck einer ausgelaugten Partei noch verstärkt. Markus Söder hat als Zündler an dieser historischen Schlappe genauso mitgewirkt. Und, Fehler Nummer 4: Mit rot-rot-grünen Schreckgespenstern mobilisiert man offenbar nicht einmal mehr die sicher geglaubte Kernwählerschaft der Union, die in Teilen zu Olaf Scholz übergelaufen ist. Spätestens jetzt haben auch CDU und CSU ihre für selbstverständlich erachtete Bindekraft als Volkspartei verloren. Das ist das Ende einer Selbsttäuschung. Das Vertrauen der Bürger in Angela Merkel hat diesen Wandel lange verschleiert.

NORDWEST-ZEITUNG (Oldenburg)
Die CDU wird sich nach den herben Verlusten neu finden müssen. Ob das mit Laschet gelingt? In der Partei werden nun der Machtkampf und die Suche nach Schuldigen für das Wahl-Debakel mit voller Wucht ausbrechen. Vor allem dann, wenn die Union auf die Oppositionsbank muss. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz kann da zuversichtlicher sein. Allerdings hat auch er eine Parteiführung im Nacken, die nach dem komplett auf ihn konzentrierten Wahlkampf nun wieder sichtbar werden will. Für Scholz heißt das: Er muss nicht nur Koalitionsverhandlungen mit weit auseinanderklaffenden Ansprüchen führen, sondern auch in der eigenen Partei ­seine Linie finden.Die Wahl war auch ein Urteil über die inhaltliche Leere und über die Zufriedenheit mit der Union jenseits und hinter der Überfigur Angela Merkel. Dass ausgerechnet Laschet mit der seit 16 Jahren regierenden Union ein „Modernisierungsjahrzehnt“ versprach, haben die Wähler ihm nicht abgenommen. Vielleicht hätte ein starker Kandidat mit einem starken Team vermocht, die müde Union zu einen. Die sollte jetzt die Chance ergreifen, sich zu sammeln und ihren Richtungsstreit zu lösen.

MITTELDEUtSCHER RUNDFUNK - Landesredaktion Thüringen (Erfurt)
Vor allem in den Dörfern (in Sachsen und Thüringen) haben sich mehr und mehr Leute von der AfD überzeugen lassen. Dass gerade in Thüringen die AfD einen extrem demokratiefeindlichen Kurs vertritt, scheint gut ein Viertel der Thüringer Wähler nicht abzuschrecken. Die Wahlkreise, in Thüringen traditionell eine sichere Bank für die Union – leider verloren. Was, wenn diese Bundestagswahl die Landtagswahl gewesen wäre? Der Ministerpräsident wäre abgewählt, die Oppositions­partei AfD stärkste Kraft. Wie würde eine Regierung aussehen?

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Die Sozialdemokraten sind sogar im ländlichen Vorpommern auf einmal zur stärksten Kraft aufgestiegen. Die CDU schien so stark mit sich und der AfD beschäftigt zu sein, dass sie kaum mitbekommen hat, wie die SPD an ihr vorbeigezogen ist. Verloren hat auch die Linkspartei kräftig, mit 9,9 % erhielt sie wie die CDU ihr schwächstes Ergebnis überhaupt im Land. Und wie die CDU gilt nun auch die Linkspartei als möglicher Partner für Schwesigs SPD. Mit wem Schwesig aber künftig ­regieren will, blieb zunächst unklar.

NEUE OSNABRÜCKER ZEITUNG
Problematisch wird auf Dauer, dass die übrigen Parteien in Ostdeutschland zumindest auf Landesebene nur noch um die AfD herum koalieren oder sich ihr annähern müssten. An diesem Punkt könnte das Wahlergebnis helfen: Wenn sich die Union im Bund in der Oppositionsrolle wiederfinden sollte, wäre das eine Chance für CDU und CSU, sich auf konservativ-bürgerliche Werte zu besinnen und damit eine echte Alternative anzubieten, die derzeit vielen konservativen und kritischen Wählern fehlt. Sollte das gelingen, dürfte es für die AfD in vier Jahren schwierig werden, auf Bundesebene zu überleben.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (München)
Die Grünen, deren Engagement für Klimaschutz unzweifelhaft ist, sollten akzeptieren, dass sich nicht alles mit Ordnungspolitik, Subventionen und gutem Willen regeln lässt; es braucht auch ökonomische Effizienz. Es ist eine Mammutaufgabe, ein Industrieland wie Deutschland in nur noch 24 Jahren klimaneutral zu machen. Die FDP wiederum wirbt sehr für solche Effizienz, sie würde am liebsten fast alles allein dem CO2-Preis überlassen. So wichtig der CO2-Preis als zentrales Instrument ist: Ein hoher Preis allein stellt noch kein Windrad auf, baut keine Stromleitung, bietet auf dem Land keine Alternative zum Auto an und saniert auch kein Gebäude. Und vor allem gestaltet er keinen einigermaßen sanften Übergang in eine klima­neutrale Zukunft.Nach einem Wahlkampf, in dem so viel Klimaschutz versprochen wurde wie nie zuvor, schulden alle regierungswilligen Parteien den Wählern Taten, und zwar schnell. Dafür sollten im Koalitionsvertrag klimapolitischer Ehrgeiz, schneller Ausbau der erneuerbaren Energien, sozialer Ausgleich und ökonomische Effizienz vorkommen. Die nötigen politischen Instrumente sind da, die Technologien auch. Wer auch immer am Ende regiert: Zeit zum Trödeln bleibt nicht mehr.