Markus Ebel-Waldmann mag es plakativ: „Agrarier können alles, außer am offenen Herzen operieren“, scherzt der Präsident des Berufsverbandes VDL Agrar, Ernährung, Umwelt. Er vertritt Akademiker aus der grünen Branche.
In seiner Aussage steckt ein wahrer Kern. Denn Agrarabsolventen sammeln im Studium Wissen in Biologie und Chemie, Kenntnisse zur Technik und digitalen Anwendungen und verbinden das mit unternehmerischem Denken. Kaum ein Studium ist so breit aufgestellt und bietet mittlerweile zahlreiche Spezialisierungen.
Über praktische Landwirtschaft hinaus
Aktuell studieren an den deutschen Agrarfakultäten, von Kiel bis Weihenstephan, etwa 16.500 junge Frauen und Männer – mehr als zwei Drittel davon an Universitäten. Die Zahl ist etwas rückläufig, aber immer noch ungefähr viermal so hoch wie zu Beginn des Jahrtausends. Einige werden nach ihrem Bachelor- oder Masterabschluss den elterlichen Hof übernehmen. Viele haben aber keinen Hof zu Hause, wirtschaften dort im Nebenerwerb oder sind weichende Erben. Sie fassen im vor- und nachgelagerten Bereich der Landwirtschaft Fuß. Das zeigen Zahlen einer aktuellen Befragung des VDL (Dezember 2021). Von mehr als 500 befragten Agrarabsolventen ging nur ein Viertel direkt in die praktische Landwirtschaft. Die Hälfte landete im vor- und nachgelagerten Bereich. 12% der Befragten arbeitete außerhalb der Branche.
An der FH in Soest fangen etwa 60 % der Bachelorabsolventen später als Berater, Produktmanager oder Vertriebler in der Landtechnik, dem Agrarhandel, der Tierernährung oder der Saatzucht an. „Auch in Banken und bei Steuerberatern ist ihr Sachverstand gefragt“, sagt Prof. Friedrich Kerkhof von der Fakultät in Soest.
Absolventen mit dem Master zieht es in die Produktentwicklung, die Forschung, zu Behörden und in die oberen Führungsetagen. Andere finden abseits der Branche bei Versicherungen oder Unternehmensberatern eine Stelle.
Rentenwelle schwappt
Trotz aller Hiobsbotschaften rund um die Landwirtschaft wächst der Bedarf nach jungen Köpfen, egal ob bei Großunternehmen, den Kammern oder im Mittelstand.
Bis zu 80 % der Absolventen hätten schon vor Abgabe der Bachelorarbeit einen festen Job, nennt Prof. Friedrich Kerkhof Zahlen vom Standort Soest. Ähnliches zeigt die VDL-Studie: Mehr als 60 % hätten spätestens nach drei Monaten nach ihrem Abschluss eine Stelle.
Diesen Bedarf bestätigt auch Christian Hüsing von der Dr. Schwerdtfeger Personalberatung. Auf die Agrarbranche schwappe eine Rentenwelle zu. Die Generation der Babyboomer, die Jahrgänge 1955 bis 1965, verabschiede sich in den kommenden Jahren in den Ruhestand und hinterlasse viele offene Stellen. „Die Nachfrage nach Fach- und Führungskräften wird hoch bleiben. Auch für die, die gerade ins Studium starten“, untermauert Markus Ebel-Waldmann.
Vielerorts braucht es im Agribusiness neue Expertise, die in neu geschaffenen Stellen münden kann. Großer Treiber ist dabei schon länger die Digitalisierung, die alle Bereiche durchdringt. Schlagworte sind der E-Commerce im Agrarhandel, das Precision Farming und die künstliche Intelligenz in der Landtechnik.
Eine weitere große Rolle werden in den kommenden Jahren der Klimaschutz und die Nachhaltigkeit spielen. Wie lassen sich in der Produktion Ressourcen einsparen? Wie kann die Landwirtschaft die Klimaziele erreichen? Welche Sorten braucht es, um sich an die Klimaveränderung anzupassen? „Um diese Fragen zu beantworten, sind Leute mit Stallgeruch gefragt, die sich in der praktischen Landwirtschaft auskennen und gangbare Lösungen für die Landwirte finden“, sagt Christian Hüsing.
Stallgeruch ist wichtig
Hinter diesem sprichwörtlichen Stallgeruch stecken Belastbarkeit sowie die Mentalität, anzupacken und Verantwortung zu übernehmen. Diese Bodenhaftung stammt vom elterlichen Hof, einer landwirtschaftlichen Ausbildung oder als Erntehelfer in den Semesterferien. Dadurch lernen die Studierenden die Mentalität der Landwirte zu verstehen und gewinnen ein glaubhaftes Auftreten in der Branche.
Lehre zum Landwirt bleibt beliebt
Die Zahl der Auszubildenden zum Landwirt ist im vergangenen Jahrzehnt in NRW nahezu konstant geblieben. Im Jahr 2010 befanden sich 1382 junge Frauen und Männer in der Ausbildung, im Jahr 2021 waren es 1340 – Tendenz leicht abnehmend. Von dieser Konstanz träumen andere Ausbildungsberufe.
„Agrarabsolventen müssen auch als Anwender begreifen, wie ein Schlepper funktioniert“, nennt Prof. Achim Spiller von der Uni Göttingen ein einfaches Beispiel. Die Besonderheiten der Branche, fachlich wie persönlich, seien zum Beispiel für reine Betriebswirte ohne Agrarstudium meist nicht zu fassen.
Dabei sind auch Praktika im vor- und nachgelagerten Bereich wichtig, um die gesamte Wertschöpfungskette kennenzulernen. „Ein Praktikum ist immer ein Gewinn für die Persönlichkeit“, sagt Markus Ebel-Waldmann. Auch wenn sie in manchen Lehrplänen nicht mehr vorgesehen sind und das Studium verlängern. Denn oft lernt man erst in der Praxis projektbezogenes Arbeiten und die Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Blick in die Glaskugel
Der Ackerbau und die Tierhaltung werden in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten anders aussehen. „Die Unternehmen suchen in der Phase des Wandels keine Verwalter, sondern Köpfe, die den Gestaltungsspielraum nutzen“, sagt Christian Hüsing.
Prof. Achim Spiller hält die Agrarbranche grundsätzlich für krisensicher. „Gegessen wird immer“, bringt er es auf eine einfache Formel. Deutschland bleibe trotz des Klimawandels ein Gunststandort für die Landwirtschaft. Vor allem rund um den Ackerbau sieht er deshalb einen Zuwachs an Stellen. Eiweißersatzprodukte, Kohlenstoffbindung im Boden, integrativer Pflanzenschutz und Agroforstsysteme lauten die Trends.
Energieversorgung und Innovationen
Zusätzlich wird die Klimabilanzierung immer wichtiger. An der Fakultät in Soest wird es ab diesem Jahr eine Professur dazu geben. Der Ausbau der erneuerbaren Energien bietet weitere Chancen. Wie es vor 15 Jahren die Bioenergie war, rücken nun die Windkraft und Agri-PV in den Fokus. Schon jetzt stellen Energieversorger und Trassenplaner Agrarier ein, da sie aus der Sicht der Landwirte auf die Planung blicken.
„Der Druck auf die Landwirtschaft erzeugt Reibung im vor- und nachgelagerten Bereich. Das sorgt für Innovationen“, erklärt Christian Hüsing. Dabei meint er auch die Schweinehaltung. Wer sich in Ausbildung und Studium auf sie spezialisiert hat, dem rät er, den Weg weiterzuverfolgen. „Gerade dieser Bereich erlebt einen Wandel und die Absolventen haben die Chance, ihn mitzugestalten“, zeigt er sich optimistisch.
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