Der Zeitplan steht seit Längerem fest: Dem Bundesvorstand der AfD soll in diesen Tagen, bis Ende März, eine Liste aller Berufsgruppen, ethnischen Gruppen, Vereine und Verbände im Land vorgelegt werden, bei denen die Partei „ein hohes Potenzial an Zustimmung erwarten kann“. Bis September soll dann ein Konzept erarbeitet werden, „wie man die verschiedenen Gruppen ansprechen kann“. Welche unter anderem gemeint sind, hat die in Teilen vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtete Partei längst intern geklärt: „Jäger, Schützenvereine, Sportschützen, Angehörige religiöser, in erster Linie christlicher Minderheiten sowie Brauchtumspfleger“.
So steht es in einem internen Strategiepapier für den Bundesvorstand der AfD, das dem Wochenblatt vorliegt. Das Dokument, datiert auf den 31. Juli 2019, analysiert auf 72 Seiten die aktuelle Lage der Partei. Außerdem wird eine detailliert ausgearbeitete Strategie entworfen, die „die AfD auf dem Weg zur Volkspartei“ einschlagen will, wie der Titel des umfangreichen Papiers lautet. Ihr Ziel: Es gehe darum, die Partei in der Gesellschaft fest zu verankern und die Voraussetzungen dafür zu legen, „Regierungsverantwortung zu übernehmen“.
Mitglieder gesucht
Eine wichtige Grundvoraussetzung sieht die Partei in der Anwerbung neuer Mitglieder. Sie sollen eines der folgenden vier Kriterien erfüllen – in dieser Reihenfolge und immer aus Sicht der AfD-Parteistrategen betrachtet:
- Berufs- und Lebenserfahrung sowie Kompetenz in wichtigen Themenbereichen,
- eine gute Vernetzung in der Bürgergesellschaft,
- die Bereitschaft, politische Verantwortung und Ämter auch auf kommunaler Ebene zu übernehmen sowie
- die Bereitschaft, finanziell zum Erfolg der AfD beizutragen.
Neue Mitglieder müssten „darüber hinaus“ auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, heißt es im Papier weiter.
Konkrete Beispiele für Unterwanderungsversuche lesen Sie hier:
„Flügel“ Verfassungsschutz
Schon diese Reihenfolge spricht Bände. Denn die Prinzipien des Grundgesetzes – Grundrechte, demokratischer Rechtsstaat, Föderalismus, Europa-Orientierung usw. – stehen für erhebliche Teile der AfD nicht nur infrage, sondern werden von ihnen aktiv bekämpft. Das hat erst vor wenigen Tagen das Bundesamt für Verfassungsschutz für den „Flügel“ der AfD festgestellt. Dieser Parteiteil wird seit Kurzem wegen seiner „erwiesen extremistischen Bestrebung“ von den Verfassungsschützern beobachtet.
Die beiden wichtigsten Vertreter des AfD-Flügels sind Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender in Thüringen, und Andreas Kalbitz, Fraktionsvorsitzender in Brandenburg. Ihr parteiinternes informelles Netzwerk zählt nach Angaben des Verfassungsschutzes bundesweit rund 7000 Mitglieder, davon allein in NRW etwa 1000 Mitglieder, wie das Düsseldorfer Innenministerium gegenüber dem Wochenblatt bestätigt hat.
Die Verfassungsschützer bescheinigen dem AfD-Flügel klar rechtsextremistische Bestrebungen und „fortlaufend neue Verstöße von Funktionären und Anhängern“ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Der parteiintern erstarkte Flügel habe sich mit der rechtsextremistischen neurechten Szene vernetzt. Der AfD-Flügel verunglimpfe selbst parteiinterne Kritik mit dem Kampfbegriff „Feindzeuge“ und dem Vorwurf der Parteispaltung.
Nach der Ankündigung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den AfD-Flügel zu beobachten, haben gemäßigtere Kräfte – innerhalb der Partei betrachtet – den AfD-Flügel gedrängt, sich aufzulösen. Ob und wie das geschieht, war Anfang dieser Woche unklar, allen offiziellen Erklärungen der Parteispitze und Höckes zum Trotz.
In der Partei schwelt der Machtkampf schon länger. Er spiegelt sich auch im AfD-internen Strategiepapier vom Sommer 2019:
- Einerseits wird als „Daueraufgabe in den kommenden Jahren“ beschrieben, „sich von Äußerungen und Aktionen, die dem extremistischen rechten Rand des Parteienspektrums zugeordnet werden können, zu distanzieren“.
- Andererseits wird es lediglich als ein „Imageproblem“ gewertet, wenn die AfD als Protestpartei bezeichnet werde, „die vermeintlich den Schulterschluss mit teilweise fragwürdigen Organisationen und Personen sucht und als Partei, die sich nicht klar genug vom rechten Rand abgrenzt“. Dieses Image sei „zum guten Teil durch die Altparteien und die Medien verursacht“, behauptet das interne Papier für den Bundesvorstand.
Ausgeblendet wird dabei, dass weite Teile der Partei und ihrer Anhänger dieses angebliche „Image“ täglich aufs Neue bestätigen. Das hat nicht zuletzt der Verfassungsschutz des Bundes bereits im Januar 2019 festgestellt.
Frauen wenig vertreten
Als Schwachpunkt hingegen wird es parteiintern gesehen, dass die AfD im konservativ-liberalen Bürgertum „als zu feindlich gegenüber der NATO und den USA und zu freundlich gegenüber ,Putins Russland‘“ betrachtet werde. Auch der vergleichsweise geringe Anklang der AfD bei der jungen Generation wird thematisiert – angeblich eine Folge „links-grün-ökologischer Ideologie“, wie es dort heißt.
Dieses parteiliche Selbst-Erklärungsmuster fällt bei der größten, in der Wählerschaft der AfD stark unterrepräsentierten Gruppe aus: bei den Frauen. So wird die Spitze der Bundespartei im Strategiepapier darauf hingewiesen, dass die AfD bei den Bundestagswahlen bei den Männern 16,3 %, bei Frauen hingegen nur 9,2 % der abgegebenen Stimmen erhalten habe. Und weiter: „Nur rund 15 % der AfD-Mitglieder sind derzeit Frauen.“ Zu den Gründen heißt es lediglich, es werde in der Partei darüber „viel spekuliert“, es gebe aber keine gesicherten Erkenntnisse. „Bisweilen drängt sich sogar der Eindruck auf, dass es manchen in der Partei egal ist, ob die AfD auch bei weiblichen Wählern hohe Resonanz findet.“
Das sind die „Zielgruppen“
Insgesamt sieht sich die AfD „noch nicht ausreichend“ in der Bürgergesellschaft verankert. Um das zu ändern, wird eine Reihe von – so wörtlich – „Zielgruppen“ in den Blick genommen. Dazu zählen aus Sicht der Parteistrategen Bürger in sicherheitsrelevanten Berufen wie Bundeswehr, Polizei, private Sicherheitsdienste, Feuerwehr oder Rettungsdienste.
Als weitere „Zielgruppen“ zählen auch Vereine und Verbände, die „beim linksliberalen Milieu“ auf wenig Sympathie stoßen, wie das Papier behauptet. Ausdrücklich genannt werden hier, wie eingangs erwähnt, Jäger, Schützenvereine, Sportschützen, Angehörige religiöser, in erster Linie christlicher Minderheiten sowie Brauchtumspfleger.
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„Ohne sich zu outen“
An anderer Stelle werden überdies Gewerkschaften, Berufsverbände, Sportvereine, Bürgerinitiativen, Nachbarschaftsvereinigungen und Jugendgruppen sowie ein weiteres Mal die Schützenvereine genannt. Der Einfluss in diesen Verbänden, Organisationen und sozialen „Zielgruppen“ soll offen und auch verdeckt ausgebaut werden – oder wie es in der Sprache des AfD-Strategiepapiers heißt:
„Wer politisch auf Dauer erfolgreich sein will, muss in solchen Organisationen über Fürsprecher und Multiplikatoren verfügen, die – ohne sich notwendigerweise parteipolitisch zu outen – die Ideen einer bestimmten Partei vertreten und einen positiven Resonanzboden für diese Partei in der Organisation verbreiten.“ An anderer Stelle heißt es: „Ähnlich wie es der 68er-Bewegung um den ,Marsch durch die Institutionen‘ ging, muss es auch der AfD um den ,Marsch durch die Organisationen‘ gehen.“
Was nicht im Papier steht
Aussagekräftig ist nicht nur das, was im Strategiepapier der AfD zu lesen ist, sondern auch das, was nicht berücksichtigt ist. So werden auf den 72 dicht beschriebenen Seiten viele gesellschaftliche Milieus und Gruppierungen detailliert in den Blick genommen und analysiert. Eine Gruppe aber fehlt: die Land- und Forstwirte. Und mehr noch – es fehlen auch Überlegungen zum ländlichen Raum und seiner Bevölkerung. Daran, so scheint es, waren die Parteistrategen noch im Sommer 2019 beim Abfassen dieses Papiers nicht interessiert. Interessiert hingegen sind sie, die Zitate mögen das zeigen, an offener und verdeckter Einflussnahme, gerade auch in Vereinen und Organisationen im ländlichen Raum, an Unterwanderung und Machtstreben. Der von der Partei ausgerufene „Marsch durch die Organisationen“ dürfte nicht nachlassen, auch nicht im ländlichen Westfalen.
Wir haben die AfD-Bundespartei in der vergangenen Woche gebeten, Stellung zum angesprochenen Strategiepapier und den darin formulierten Zielen und Methoden zu nehmen. Bislang haben wir keine Antwort erhalten.
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