Morgens im Stall melken und füttern, im Anschluss ab 8 Uhr online an Vorlesungen teilnehmen. So sieht zurzeit der Tag von Marie Hilgers aus. Die 19-Jährige studiert im zweiten Semester Agrarwirtschaft an der Fachhochschule Südwestfalen.
Einen ähnlichen Alltag teilen momentan viele Agrarstudierenden am Campus in Soest. Nicht nur da, sondern an allen Hochschulen in NRW läuft seit dem 20. April 2020 aufgrund der Corona-Pandemie erstmals flächendeckend ein Onlinesemester.
Hörsäle und Seminarräume bleiben geschlossen. Mehr als 780 000 Studierende zwischen Rhein und Weser versuchen gerade, digital zu studieren.
Vorlesung auf dem Trecker
Marie Hilgers kommt von einem Milchviehbetrieb, 120 Kühe samt Nachzucht, in der Nähe von Eschweiler im Kreis Aachen. Hier wohnt sie gerade wieder. Der elterliche Hof liegt im Außenbereich. Zwar ist der Internetempfang nicht der beste, doch die Vorlesungen per Videostream funktionieren störungsfrei.
Von den sechs Fächern, die sie dieses Semester hat, streamen drei Dozenten ihre Vorlesung live zum Zeitpunkt, wie es der normale Stundenplan für das Semester vorgesehen hätte.
Über das Programm Zoom folgt Marie diesen Vorlesungen. Meist sitzt sie an ihrem Schreibtisch und macht sich Notizen. Schafft sie es mal nicht passend online zu sein, schicken Kommilitonen ihr ihre Mitschrift.
Vor einigen Wochen half die Studentin beim Mais säen. Sie schaltete sich per Smartphone vom Trecker zu. Ihre Eltern freut es, dass sie mit anpackt. „Ich muss aber nicht. Sie stellen es mir frei“, sagt sie und versucht so gut es geht, normal zu studieren.
Eine ihrer Dozentinnen lädt Lernvideos hoch, die ungefähr eine Woche abrufbar sind. Das ist flexibler für Marie. „Ich kann mir sie anschauen, wenn ich Zeit habe“, sagt die 19-Jährige. Die Videos muss sie aber bei einer Freundin herunterladen.
„Zum direkten Schauen ist unsere Internetverbindung zu schlecht.“ Eine Dozentin lädt nur die Folien der Präsentation hoch. „Das macht es schwierig für Neulinge wie mich, da erklärende Kommentare fehlen“, sagt Marie. Insgesmat fehlt ihr der direkte Austausch mit ihren Kommilitonen und den Lehrkräften. „Die Dozenten geben sich aber Mühe, damit der Stoff nicht auf der Strecke bleibt“, sagt sie.
Studium lässt sich in Betriebsalltag einbinden
Eine dieser Dozentinnen ist Professorin Verena Haberlah-Korr. Eigentlich wäre sie gerade mit einer Studierendengruppe für eine Woche im Baltikum auf Exkursion. Doch Corona verhinderte die Reise. Sonst hat die Professorin gerade einen kurzen Arbeitsweg. Er führt nach dem Frühstück in der Küche direkt ins heimische Büro. Von dort streamt sie ihre Vorlesungen per Zoom. Ihre beiden Söhne, die gerade auch von zu Hause studieren, haben ihr geholfen, damit alles störungsfrei läuft.
Die Dozentin hält in diesem Semester eine Vorlesung für das vierte Semester zum allgemeinen Pflanzenschutz und für das sechste Semester zum speziellen Pflanzenschutz. Hinzu kommen Übungen und Seminare. Sie und ihre Kollegen versuchen das, was analog stattfinden würde, mehr oder weniger ins Internet zu verlagern. „Es ist eine Notlösung“, sagt sie.
Dennoch loggen sich mehr als 80 Studierende zu ihren Vorlesungen ein, obwohl keine Anwesenheitspflicht herrscht. Laut der Professorin sind mehr Studierende bei einer Acht-Uhr-Vorlesung online dabei als sonst im Hörsaal. „Sie sind so flexibler und können die Vorlesung besser in den Betriebsalltag integrieren“, sagt sie.
Nichtsdestotrotz spricht die Professorin gerade überwiegend mit der Wand, da die Studierenden ihre Kameras und Mikros ausgeschaltet haben. Sonst würden zahlreiche Hintergrundgeräusche den Vortrag stören. Was der Dozentin fehlt, ist das direkte Gespräch und die Mimik der Studierenden.
Was gerade komplett wegfällt, ist das Anfassen und Ausprobieren. „Das macht eigentlich das Agrarstudium in Soest aus“, sagt die Hochschullehrerin. Sie kann zwar Pflanzenkrankheiten auf Bildern zeigen, aber das Anschauungsmaterial und die Präparate, die sie sonst mit in den Hörsaal nimmt, fehlen.
Die Professorin ist auch für den Lehrgarten zuständig und Leiterin des Versuchsgutes in Merklingsen. Dort erstellen ihre Mitarbeiter Lernvideos und machen Fotos für die Übungen. Sie ermuntert die Studierenden rauszugehen, um auf dem Acker vor der eigenen Tür mal eine Bonitur zum Beispiel im Raps durchzuführen. Sie weiß aber auch, dass sich manche Studierende vor Praxis gerade nicht retten können.
Zeit zum Studieren fehlt
Einer davon ist Niklas Belmann. Er hat auf dem elterlichen Hof gerade gut zu tun. Der Agrarstudent stammt von einem Milchviehbetrieb in Lippborg im Kreis Soest. Außerdem hilft er bei einem Lohnunternehmen aus. Der gelernte Landwirt ist im vierten Semester des Bachelorstudienganges. Während des Semesters wohnt er sonst in einer Zweier-WG in Soest.
„Das Onlinesemester gefällt mir nicht“, sagt er. Den Vorlesungen folgt er gerade eher sporadisch. Denn er kann sich nicht so gut auf die digitalen Vorlesungen konzentrieren, vor allem wenn draußen Arbeit ansteht. Seine Eltern stellen es ihm frei, ob er mithilft oder nicht. „Wenn ich aber zu Hause bin, dann kann ich einfach schlecht Nein sagen“, betont er. Er möchte später schließlich mal den Hof übernehmen.
So stand zunächst die Maissaat an, nun der Pflanzenschutz. Außerdem half er beim ersten Grasschnitt. Wenn er dann irgendwann mal Zeit findet, setzt er sich an den Schreibtisch und macht was fürs Studium. Meist ist das abends oder am Wochenende der Fall.
Ihm fehlt der Kontakt zu seinen Kommilitonen. Zwar tauschen sie sich oft per Telefon aus, doch das ersetzt nicht die Lerngruppen vor Ort und das gemeinsame Essen in der Mensa. Außerdem bricht das Studentenleben abseits des Studierens weg – keine Kneipenbesuche, keine Sommerfeste und kein gemeinsames Grillen am Möhnesee. „Die Soester Studenten sind an sich sehr eng mit der Stadt verbunden“, sagt das aktive Mitglied der Fachschaft.
Ab Mitte Juli stehen die Klausuren an. Die Klausurphase wurde schon von zwei auf sechs Wochen verlängert, sodass mit genug Abstand vor Ort geprüft werden kann. Niklas plant, sich in den nächsten Wochen von seiner Studentenbude in Soest gezielt auf die Prüfungen vorzubereiten. Nur so findet er den nötigen Abstand von der Hofarbeit.
Mehr zum Lernen in Zeiten von Corona: