Gap Year Südwestfalen: Auszeit zur Berufsorientierung

Ein Jahr, eine Region, drei Unternehmen: Die Südwestfalen Agentur will mit ihrem „Gap Year“-Programm junge Menschen in der Region halten und dem Fachkräftemangel entgegensteuern. Projektkoordinatorin Saskia Haardt-Cerff erklärt, wie genau.

Wochenblatt: Gap Year heißt wörtlich übersetzt in etwa „Lückenjahr“. Welche Lücke haben Sie mit dem Gap Year Südwestfalen im Blick?

Projektmanagerin PERSPEKTIVE Südwestfalen 2.0. (Bildquelle: privat)

Saskia Haardt-Cerff: Klassischerweise meint ein Gap Year die Lücke zwischen Schulabschluss und Beginn der Ausbildung, in der viele junge Leute durch Australien reisen, abschalten und jobben. Wir sagen: „Nimm dir eine Auszeit, aber nutze sie, um die verschiedenen Unternehmen und Branchen in Südwestfalen kennenzulernen.“

Wie sieht das konkret aus?

Unser Angebot richtet sich an zwei Zielgruppen: die Schulabgänger – unsere Newcomer – und diejenigen mit abgeschlossener Ausbildung oder Studium, unsere Young Professionals.

Den Newcomern wollen wir eine grundlegende berufliche Orientierung bieten. Sie sollen herausfinden, welche Berufe zu ihnen passen, um sich nach dem Gap Year besser für eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden zu können. Dabei bieten wir drei unterschiedliche Varianten an: Unser klassisches Modell besteht aus dreimal drei Monaten Praktikum bei drei Unternehmen sowie drei Monaten zur freien Zeit.

Wer in kurzer Zeit möglichst viele Einblicke sammeln möchte, kann am „Mini-Modell“ teilnehmen. Dort lernen die Schulabgänger drei Unternehmen in drei Monaten kennen. Voraussetzung für beide Modelle ist, dass sich die New­comer an jeder Station einen anderen Beruf anschauen und sich so dreimal komplett neu orientieren.

Die dritte Variante läuft in Kooperation mit der Universität Siegen und nennt sich „Work and Study“. Sie besteht aus einem dreimonatigem Praktikum, einem Vorstudium und drei Monaten zur freien Verfügung.

Wie unterscheiden sich die Angebote für Studienabsolventen und junge Menschen mit abgeschlossener Ausbildung?

Die Grundidee ist eigentlich gleich: dreimal drei Monate Praktikum. Die Young Professionals sind oftmals durchs Studium gerast ohne viel Praxiserfahrung zu sammeln – genau die verlangt der Arbeitsmarkt aber. Absolventen können im Gap-Year ihre fehlende Praxiserfahrung aufstocken und eventuell direkt in den Job hineingleiten. Im ersten Durchgang wurde zwei der sechs Young Professionals ein Job an ihrer Praktikumsstelle angeboten.

Projektidee von jungen Menschen
Die Region Südwestfalen umfasst die Kreise Olpe, Soest und Siegen- Wittgenstein, den Hochsauerlandkreis sowie den Märkischen Kreis. Das Gap Year wird durch die Südwestfalen Agentur koordiniert. Die Idee kam aus der Zielgruppe selbst: Im Rahmen der Jugendkonferenz Utopia entstand 2016 das Konzept eines Orientierungsjahres für willige Rückkehrer und Daheimbleiber. Anlass war die Erfahrung der jungen Menschen: Nach ihrem Studium wollten viele in ihre Heimat zurückkehren, hatten es aber schwer, dort Fuß zu fassen. Unter dem Dach des Regionalmarketings wurde die Idee weiterentwickelt: „Wir arbeiten eng mit den lokalen Unternehmen an der Fachkräftegewinnung und -bindung“, berichtet Koordinatorin Saskia Haardt-Cerff. Mit dem GAP Year machen wir diese Unternehmenswelt erlebbar.“

Wie läuft die Bewerbung ab?

Die Bewerber können mit einer zentralen Bewerbung ihr individuelles Gap-Year zusammenstellen. Sie können online angeben, welche Berufe, Berufsfelder und Unternehmen sie interessieren. Wir erhalten die Bewerbungen und leiten diese an die passenden Unternehmen weiter. Wenn eine Person zwei, drei oder mehr Zusagen von Unternehmen bekommen hat, laden wir sie zu einem zentralen Bewerbertag ein.

Dort haben die jungen Menschen die Chance, die Unternehmen in 15-minütigen Speed-Dating-Interviews kennenzulernen. Das ist eine relativ lockere Atmosphäre: Alle 15 Minuten klingelt eine Kuhglocke und dann wird rotiert.

Wer entscheidet, welche Bewerber zu welchen Firmen kommen?

Die Firmen geben uns nach dem Bewerbertag eine Rückmeldung, wem sie Praktikumsplätze anbieten können. Wir koordinieren im Hintergrund und machen Pläne in Abstimmung mit den Bewerbern und Unternehmen.

Wie wird das Angebot angenommen?

In der zweiten Runde des Gap Years haben wir bei den New­comern steigende Zahlen. Von 31 Bewerbern konnten wir 13 in das Programm aufnehmen.

Bei den Young Professionals ist es etwas schwieriger, passende Unternehmen zu finden. Das liegt zum einen daran, dass die Unternehmen den Hochschulabsolventen mehr zahlen: 1423 statt 450 €. Zudem schnuppern die Young Professionals nicht in drei unterschiedliche Bereiche rein, sondern wollen ihr Wissen in einem Bereich praktisch vertiefen. In einigen Branchen können wir noch nicht drei unterschiedliche Praktika anbieten.

Wie viele Unternehmen machen derzeit mit?

Aktuell 36. Die meisten kommen aus der Industrie, wir haben aber auch kleinere Dienstleistungsunternehmen aus dem IT- und Kommunikationsbereich, Steuerberater und Krankenhäuser sowie soziale Einrichtungen dabei. Was wir in der Praxis merken: Es ist gar nicht so einfach, Unternehmen zum Mitmachen zu gewinnen. Wir sind daher immer auf der Suche nach neuen Unternehmen – gerne auch aus dem Agrarsektor. Das Interesse bei den jungen Leuten ist da.

Welche Rolle spielt die regionale Verankerung in Südwestfalen?

Mit dem Gap Year verfolgen wir das gleiche Ziel wie im Regionalmarketing: dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Als ländlich geprägter Raum mit einigen kleineren Städten konkurrieren wir mit den Ballungszentren wie Köln, Frankfurt und Bonn. Gerade die Abiturienten gehen oft zum Studieren weg. Die wollen wir halten und zurückholen.

Dabei stellen wir fest, dass viele junge Menschen gar nicht wegwollen. Im Gegenteil: Sie haben eine starke regionale Haftung. Ihnen fehlt nur teils eine Bleibeperspektive vor Ort. So wie wir das Gap Year gestrickt haben, ist es einzigartig. Mir ist keine andere Region bekannt, die solch einen Ansatz verfolgt.

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