Die ewige Suche

Michael Tripp heißt jetzt Bruder Natanael. Der junge Westfale lebt seit zwei Jahren im Kloster in Jerusalem. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Ob sie richtig war, kann er nicht sicher wissen. Nur glauben.

Es sind 12 km von der „Dormitio“-Abtei in Jerusalem nach Bethlehem zu der Grotte, in der Jesus der Überlieferung nach geboren wurde. Michael Tripp ist einer der Pilger, die in der heiligen Nacht dorthin unterwegs sind. Sie bringen eine Schriftrolle mit tausenden von Namen zu Jesu Geburtsstätte, für die sie dort beten. Doch der 32-jährige Westfale ist kein gewöhnlicher Pilger. Er heißt Bruder Natanael und lebt seit zwei Jahren nach der Ordensregel des hl. Benedikt: bete, arbeite und lese. Fünf Mal am Tag treffen sich die Benediktiner zum Gebet, dazwischen wird gearbeitet. Kein Luxus, keine Familie, viel Stille.

Im Gespräch mit dem Wochenblatt lässt Natanael den Weg von seinem alten Leben ins neue Revue passieren. „Im Nachhinein“, sagt er, „erscheint alles wie Gottes Fügung.“

Die innere Kraft

Ein Rückblick: Michael Tripp wird katholisch erzogen. Als Jugendlicher ist er in seiner Heimatgemeinde in Ahlen aktiv als Messdiener, Jugendleiter, später im Pfarrgemeinderat. Mit 18 besucht er die ökumenische Klostergemeinschaft Taizé in Burgund. „Klöster faszinierten mich schon immer“, sagt Michael, der damals eine Tischlerlehre absolviert. Nach dem Fachabi leistet er Zivildienst in einem christlichen Kinderheim in Brasilien. Dort betreut er Kinder, die von ihrer eigenen Familie missbraucht wurden und erlebt, was für ein Glück er eigentlich hat. „Brasilien war eine prägende Zeit für mich“, resümiert Michael. „Ich war so dankbar für mein Leben und meine Familie.“

Und nun? Erstmal eine Auszeit!

Nach diesem bewegenden Jahr kommt Michael zurück nach Ahlen. Und jetzt? Arbeiten? Studieren? Schon damals spielt er mit dem Gedanken, ins Kloster zu gehen, schiebt ihn aber beiseite.

Er nimmt sich eine Auszeit. Mit einem klösterlichen Leben hat die nichts zu tun: Erst übernimmt er für drei Monate die Betreuung von Ski-Freizeiten in Österreich und plant dann, vier Monate als Animateur auf den Kanaren zu arbeiten. „Meine Biografie beinhaltet Hochs und Tiefs meiner Verbundenheit zu Gott“, sagt er. „Aber eine innere Kraft hat mich immer wieder zu ihm zurückgeführt.“

Auf den Kanaren verliebt sich Michael in eine Kollegin und verlängert seinen Aufenthalt um ein Jahr, lässt sogar einen Studienplatz sausen. Kurz nach dieser Entscheidung zerbricht die Beziehung. Insgesamt bleibt er 16 Monate fort.

Kloster oder Freundin?

2006 beginnt er in Hannover Theologie und Holztechnik zu studieren. „Ich wollte wissen: Was steckt denn eigentlich hinter meinem Glauben?“, sagt Michael. 2009 führt ihn seine Suche intensiver in Richtung Gebetsleben. Damals hat er einen Platz reserviert für einen einwöchigen Aufenthalt in einem bayerischen Kloster. Gleichzeitig ist er in einer Beziehung. Das lässt ihn rätseln. Er storniert die Anmeldung. „Eine Freundin haben und ins Kloster gehen. Das passt doch irgendwie nicht zusammen."

Dann der Sinneswandel. „Nein“, ruft es in ihm „ich muss jetzt dem nachsinnen, was mich die ganze Zeit umtreibt!“ Er fährt doch ins Kloster. Und trennt sich von seiner Freundin.

Fast wie ein Outing

Was für ein Gefühlschaos. Natanael sagt: „Das war wie ein Outing. Ich hatte mir zum ersten Mal selbst eingestanden, dass ich mich auf diese Suche begeben muss. Ich sprach aus, dass ich vielleicht ein Mönch sein will.“ Doch wer glaubt, dass das die finale Entscheidung war, der irrt. Einen Monat später ist er wieder mit seiner Freundin zusammen. Es hält fünf Monate.

Endlich Gewissheit?

Zwei Jahre lang taucht der Gedanke ans Mönchsein immer wieder auf. Er schaut sich mehrere Klöster an, besucht ein Priesterseminar – doch noch immer behält er die Ernsthaftigkeit der Idee für sich. Sicher würden ihn alle für verrückt erklären, denkt Michael. Mit einem Freund, den er im Priesterseminar kennengelernt hat, kann Michael über Berufung sprechen. Zuhause ahnt keiner, wie ernst es ihm ist.

Er lebt also normal weiter, geht feiern, lässt nichts liegen, steht mitten im Leben. Er wendet den Gedanken ans Kloster von links nach rechts. Das bringt ihn irgendwann nicht weiter. Er muss die Erfahrung selbst machen. Die Hoffnung: Gewissheit erlangen.

Sechs Monate in Jerusalem

Nach seinem Studium verschlägt es Michael zum ersten Mal in die „Dormitio“-Abtei in Jerusalem, die heute sein Zuhause ist. Dort leistet er sechs Monate Freiwilligendienst. Es gefällt ihm gut, ja, aber er ist sich noch nicht sicher genug. Noch nicht vollkommen überzeugt. Und das muss er sein – zu viel müsste er aufgeben, wenn er wirklich Mönch wäre.

„Ich war nie ein Kind von Traurigkeit. Daher weiß ich ja genau, was ich verpasse“, sagt er heute nach der Entscheidung. Damals kehrt er zurück nach Deutschland und beginnt ein Referendariat in Köln.

Das Berufungserlebnis

Ostern 2013 macht Michael mit seiner Cousine eine Woche Urlaub in Israel. Natürlich besuchen sie auch die „Dormitio“-Abtei, die er so gut kennt. Und dann, endlich, passiert das, was sich selbst gläubige Menschen nur schwer vorstellen können – aber auf das jemand sehnsüchtig gewartet haben muss, den sein Leben lang das so schwer zu beschreibende, „innere Verlangen, die Gottessehnsucht“ plagte. Natanael sagt: „Das Gefühl, als ich da in diese Kirche kam, das war – Boah!“

Ist sie das? Die lang ersehnte Gewissheit? Es scheint, als habe er jahrelang Gramm für Gramm auf eine unsichtbare Überzeugungs-Waage gelegt, die lange auf der Seite des „normalen“ Lebens lag. Und dann, ohne es zu wissen, fällt damals in dieser Kirche auf dem Zionsberg das letzte Gramm auf die andere Seite der Waage. Sie kippt.

Das alte Leben weg-organisieren

Natanael zieht im Februar 2014 ins Kloster. Erst beendet er sein Referendariat. Dann organisiert er sein altes Leben weg: Konten räumen, Möbel verkaufen, Abschied nehmen. Seine Familie hat inzwischen verstanden, dass es ihm ernst ist. Sie stärkt ihm den Rücken. „Wirklich schwierig war es für sie, dass ich mich ausgerechnet für Jerusalem entschieden hatte“, blickt Natanael zurück. So weit weg!

Noch alle Tassen im Schrank?

Seine alten Freunde reagieren unterschiedlich. „Natürlich gab es Sprüche, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe“, sagt Natanael. „Aber hier geht es um Glauben. Den erfährt halt jeder anders.“ Heute stellt er fest, dass sich die Gespräche mit einigen seiner Freunde aus der Heimat verändern. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn die mir das abkaufen.“

„Kann ich so leben?“

Natanael ist glücklich in seinem neuen Leben. Er ist endlich angekommen. „Das, was Partner miteinander verbindet, das empfinde ich mit meiner Spiritualität. Ich fühle mich geborgen, aufgehoben und, ja, glücklich.“

Schwierig bleibt es. Natanael sagt: „Am Anfang sieht man alles durch die rosarote Brille, alles ist gut. Aber nach und nach sieht man, dass das Leben im Kloster Ecken und Kanten hat. Deshalb muss ich mich immer wieder fragen: ‚Kann ich damit leben?’. Reicht mir das?“

Finale Entscheidung in spätestens neun Jahren

Deshalb denkt Natanael – und so ist es von den Oberen auch gedacht – immer nur von Schritt zu Schritt. In diesem Jahr hat er seine „einfache Profess“ abgelegt, also öffentlich Gehorsam, Beständigkeit und klösterlichen Lebenswandel gelobt. Das ist so etwas wie eine Verlobung mit Gott. Die Hochzeit, in der Ordenssprache „die ewige Profess“, steht in drei, spätestens neun Jahren an. So viel Zeit gibt die Ordensregel Natanael, um sich sicher zu sein. „Auch wenn ich Beziehungen, Freundschaften und ein Stück Freiheit aufgegeben habe, merke ich in vielen Situationen, dass ich hier Erfüllung finden kann“.

Welcher Mensch hat nicht auch mal Zweifel?

Zu hundert Prozent sei sich im Kloster niemand sicher, sagt er. „Zweifel hat jeder. Ich kann nicht ausschließen, dass ich es mir anders überlege. Aber ich sehe es als Dienst für Gott an. Er will mich hier haben, deshalb läuft man nicht einfach davon, wenn es mal wieder hart ist.“

Hart ist es öfters. „Aber“, so sagt Natanael, „welcher Mensch weiß schon, ob ihn seine Lebenssituation für immer trägt.“ Eva Piepenbrock

Den vollständigen Artikel und mehr Informationen zum Leben im Benediktinerkloster lest ihr in Wochenblatt Ausgabe 52/15.