Jüdisches Landleben: Bildung, Besitz und Organisation

„Zur Erlernung und Betreibung nützlicher Handwerke aufmuntern"

Jugendliche sollten "nützliche Handwerke“ erlernen: Eine der wohl wirkmächtigsten Bildungseinrichtungen Westfalens ging auf den Anstoß des jüdischen Gutsbesitzers und Kaufmanns Elias Marks zurück.

Elias Marks und sein Schwiegersohn Alexander Haindorf hatten in den 1820er-Jahren eine ungewöhnliche Idee: Sie beabsichtigten, in Münster eine Schule aufzubauen, „worin sowohl arme und verwaisete Kinder unentgeltlich unterrichtet als auch künftige brauchbare Schullehrer, unter Anleitung eines zuvor in einem Seminarium auszubildenden Lehrers, vorbereitet werden sollen“. Außerdem war es ihre Absicht, Jugendliche „zur Erlernung und Betreibung nützlicher Handwerke aufzumuntern“. Der Trägerverein der Schule, so ihre Idee, sollte über eine Stiftung finanziell und organisatorisch abgesichert werden.

Die preußische Regierung in Münster genehmigte die Schule im November 1825. Der Verein war aus zweierlei Gründen etwas Besonderes:

  • Zum einen gab es so etwas noch nicht in Westfalen. Eine Stiftung, die über einen Verein eine Schule trägt – dieses Modell war für die damalige Zeit überaus modern und wurde zum Vorbild für ähnliche Initiativen.
  • Zum anderen waren Stiftung und Schule auf die jüdische Minderheit Münsters bzw. Westfalens ausgerichtet und sollten deren rechtliche Emanzipation und Integration befördern. Die beiden Gründer Marks und Haindorf waren jüdischer Herkunft.

Erfolg im Handel, Pech im Privatleben

Elias Marks stammte aus Kamen. Dort war er am 20. Juni 1765 geboren worden – in einer Zeit also, als Westfalen zersplittert war, von Feudalherrschaften unterschiedlich gut regiert, und die jüdische Minderheit starken Reglementierungen unterlag. Landwirtschaft und Handwerk war ihnen verboten. Lediglich der Handel mit Vieh, Getreide und Geld war den Juden Westfalens erlaubt.

Auf diesem Feld hatte es der Kaufmann und Bankier Marks zu stattlichem Vermögen gebracht. Wenig Glück indes hatte er im Privatleben. 1789 hatten Elias Marks und seine Cousine Henriette Hertz geheiratet. Sie gebar ein Jahr später die einzige Tochter Sophia Marks. Als diese Tochter 25 Jahre alt war, heiratete sie den aus dem Sauerland stammenden Alexander Haindorf. Sie gebar ein Kind, starb aber noch im Kindbett, gerade 27 Jahre alt. Wenig später verschied auch noch Elias Marks’ Ehefrau Henriette.

Marks blieb also allein mit seiner Enkelin, die ebenfalls Sophie hieß, und seinem Schwiegersohn Alexander Haindorf. Das Schicksal hatte die beiden Männer auf das Engste verbunden.

Marks wird Gutsbesitzer

Um 1820 erwarb der inzwischen 55-jährige Kaufmann Marks das ehemalige Rittergut Haus Caldenhof bei Hamm. Dorthin zog er sich mit seiner (Rest-)Familie und einer Erzieherin für die Enkeltochter zurück. Später erwarb er weitere Güter und Ländereien zwischen Hamm und Soester Börde. Den Caldenhof hat Marks zumindest zeitweilig selbst bewirtschaftet. Die übrigen Güter hat er verpachtet.

Möglich war das alles, weil die preußische Regierung die jüdische Minderheit rechtlich gleichgestellt hatte. Die „Emancipationsgesetze“ erlaubten es den Juden in Westfalen, Vereine zu gründen und sich in der Politik oder auf anderen Feldern des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu betätigen, auch im Handwerk und in der Landwirtschaft.

Praktische Ausbildung

Kurz nach Inkrafttreten dieser Gesetze war in Berlin eine „Gesellschaft zur Verbreitung der Handwerke und des Ackerbaues unter den Juden im preußischen Staate“ entstanden, deren Namen alles sagt. Ähnlichen Zielen sollte die eingangs genannte Stiftung in Münster dienen. Sie sollte vor allem Lehrer ausbilden, die ihr Wissen gleich nebenan, in einer zur Stiftung gehörenden Musterschule ausprobieren konnten. Vermittelt wurde durchaus auch geistig-theologisches Wissen. Im Mittelpunkt aber standen die „Realien“, wie man damals sagte, also die für die Berufspraxis so wichtigen Fächer der Realschulen: Deutsch, Mathematik, Landeskunde, Geschichte, vor allem aber handwerkliche Fertigkeiten.

Die jüdischen Schüler sollten in Münster aber nicht – wie in Berlin – den Ackerbau erlernen. Diese Lücke erstaunt, betätigte sich doch Marks selbst zumindest zeitweise als Landwirt. Auch kannte er aufgrund seines Landeigentums die Bedeutung des Ackerbaus für Westfalen. Lag es an seinem Schwiegersohn und Compagnon, der wenig Sinn für Agrarisches hatte und eher an geistigen Dingen interessiert war?

Alexander Haindorf und seine Enkelkinder - 1854 entstand dieses Gemälde von Caspar Goerke, das sich heute im Landesmuseum für Kunst- und Kultur (LWL) in Münster befindet. (Bildquelle: Caspar Göke / Wikimedia)

Wer war Haindorf?
Alexander Haindorf, 1784 geboren, stammte aus dem Dörfchen Lenhausen bei Finnentrop im Sauerland. Der Kaufmannssohn hatte Rabbiner werden sollen, wenn es denn nach seinen Eltern gegangen wäre. Doch er wandte sich dem Studium der Geisteswissenschaften, vor allem aber der Medizin zu.
Früh beschäftigte er sich mit psychologischen Grundfragen. So schrieb er seine Habilitationsschrift über die „Pathologie und Therapie der Gemüts- und Geisteskrankheiten“.
Eine Universitätsprofessur blieb ihm aufgrund seines jüdischen Glaubens verwehrt. Haindorf wurde Lazarettarzt in preußischen Diensten, arbeitete zeitweilig an der Universität zu Münster und praktizierte als Nervenarzt in vielen westfälischen Adelsfamilien.
Wie Marks, so trat auch Haindorf für die Gleichstellung der jüdischen Minderheit. Für ihn waren Bildung und praktisches, handwerkliches Wissen der Schlüssel zum Aufstieg und zur Gleichstellung.
Alexander Haindorf starb 1862 auf Gut Caldenhof und ist auf dem jüdischen Friedhof in Münster beigesetzt.

Elias Marks starb 1854 in Hamm. Kurz zuvor hatte er verfügt, dass ein Teil seines Vermögens in eine weitere Stiftung fließen sollte, mit der Hilfsbedürftige unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Konfession unterstützt werden sollten.

Das Eigentum am Gut Caldenhof ging auf seinen Schwiegersohn Alexander Haindorf über, nach dessen Tod 1862 an die Enkelin Sophie Marks und deren Ehemann, dem aus Mülheim stammenden Forstmeister Jakob Loeb.

Elias Marks hatte noch dafür gesorgt, dass Jakob Loeb auch eine landwirtschaftliche Ausbildung absolvierte, unter anderem auf Gut Ickern des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig von Vincke.

Loeb trat also als Forstmeister und gelernter Landwirt das familiäre Erbe an, das er in der Folgezeit durch Ankauf erweitern konnte. Um die Jahrhundertwende 1900 umfasste der Familienbesitz schließlich mehr als 570 ha Eigentum. Neben Gut Caldenhof mit 70 ha gehörten dazu

  • das ehemalige Klostergut Kentrop in Hamm,
  • das Rittergut Haus Mark in Rhynern,
  • drei Höfe in Westönnen und Scheidingen sowie
  • ein Rittergut, ebenfalls in Scheidingen.

Jacob Loeb wurde 1855 Mitglied im renommierten Landwirtschaftlichen Hauptverein für das Münsterland, wie die "Landwirthschaftliche Zeitung" auf ihrer Titelseite vermeldete - neben dem Eintritt von "Kaufmann Löwenstein" aus Münster. Es handelt sich vermutlich um den aus Neuenkirchen bei Rietberg stammenden Marcus Löwenstein (1802-1880). (Bildquelle: Wochenblatt-Archiv)

Das verschmähte Gut

Bereits 1854 hatte Jakob Loeb auch die Leitung der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster übernommen. In den Satzungen der Stiftung firmierte er stets als „Gutsbesitzer“.

Dieser Titel und das Engagement der Familie Marks-Loeb für das Berufs- und Bildungswesen in Westfalen konnte nicht verhindern, dass Haus Caldenhof als „Judengut“ verschmäht wurde. Das änderte sich auch nicht, als sein Sohn Richard Leob zum Protestantismus konvertierte und den umfangreichen Landbesitz zu einer Familienstiftung, einem so genannten "Fideikommiss", zusammenführte.

Noch dessen Sohn und letzter Eigentümer der Familienstiftung, der Jurist Ernst Theodor Loeb-Caldenhof, hatte unter Schmähungen und brutaler Verfolgung zu leiden. Er arbeitete als Regierungsrat im Berliner Landwirtschaftsministerium und wurde 1919 zum Landrat des Kreises Hameln ernannt. 1933 wurde er „aus rassischen Gründen“ abgesetzt. Der Jurist zog sich auf Gut Caldenhof zurück. Dort wurde er im Oktober 1944 verhaftet und zur Zwangsarbeit in ein Lager in Hünfeld/Hessen verschleppt. Im Frühjahr 1945 wurde er von US-Soldaten befreit.

Am Dreikönigstag 1961 schenkte der mittlerweile betagte Landrat den Rittersitz dem Evangelischen Kirchenkreis Hamm. Für Mission und Diakonie, so sein Wunsch solle die Schenkung verwendet werden. Mission und Diakonie – das klingt wie ein ferner Nachhall der einstigen Stiftungsgründung.

Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.


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