Bahnverkehr

Züge auf reaktivierten Trassen

Verfallene Bahnhöfe, überwucherte Gleise: Jahrzehntelang schrumpfte das Streckennetz der Eisenbahn. Jetzt rollen an mehr Orten wieder Züge. Eine Chance für ländliche Räume und ein Plus fürs Klima?

Es ist lange her, dass Züge sprichwörtlich an jeder Milchkanne hielten. Bis in die 1970er-Jahre schlängelte sich ein vergleichsweises engmaschiges Schienennetz durchs Land. Heute gibt es viele Lücken. Strecken wurden eingestellt und Bahnhöfe aufgegeben.

Mancherorts rollte der Güterverkehr weiter, andernorts übernahm die Natur das Kommando. Auf einigen alten Trassen verlaufen heute Radwege. Durch Stilllegungen war bis 2009 fast ein Drittel des einstigen Eisenbahnnetzes in Westfalen verschwunden.

Die Politik setzte nach dem Krieg vor allem auf Auto und Straße. Die Bahn hingegen musste immer mehr einen Spagat bewältigen: Zwischen betriebswirtschaftlicher Führung der einzelnen Strecke ­einerseits, volkswirtschaftlichen Pflichten und Aufgaben der Daseinsvorsorge andererseits. In der Folge rentierten sich viele Strecken, vor allem auf dem Land, nicht mehr.

Dort läuft heute für viele Familien ohne ein Auto – oder besser sogar zwei – nichts. Der Pkw macht unabhängig und flexibel. Die Spritpreise waren jahrelang moderat, die Straßen sind gut ausgebaut und Parkplätze selten Mangelware.

Mehr Tempo fürs Klima

Doch seit der Jahrtausendwende erlebt die Schiene eine kleine Renaissance. Allein in NRW wurden über 200 Schienenkilometer reaktiviert. Der „Haller Willem“ im Kreis Gütersloh gehörte 2005 zu diesen Strecken. Inzwischen nimmt die Debatte weiter an Fahrt auf.

Reaktivierung ländlicher Bahnstrecken

"Haller Willem": Vorzeigeprojekt oder Sorgenkind?

von Gisbert Strotdrees

Der „Haller Willem“ pendelt seit 2005 wieder zwischen Osnabrück und Bielefeld. Eine Erfolgs­geschichte ohne Abstriche?

Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung widmet sich verstärkt dem Ausbau des Bahnverkehrs. Bis 2030 sollen doppelt so viele Bahnkunden fahren wie 2018 und mehr Güter auf der Schiene landen.

Mit dem novellierten Klimaschutzgesetz will die Bundesregierung den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 65 % reduzieren. Vermutlich werden die Ziele nach der Wahl noch ambitionierter.

Die Schiene als Baustein

Ein Baustein kann die Wiederbelebung von Bahnstrecken sein, vor allem dort, wo noch Gleise liegen. Denn laut Umweltbundesamt stößt die Eisenbahn im Nahverkehr im Durchschnitt nur 55 g Treibhausgase pro Personenkilometer aus. Wer das Auto nutzt, kommt auf 143 g, mit dem Bus auf 80 g.

Auf Bundesebene werden dafür Weichen gestellt: Die jährliche Bundesförderung für solche Infrastrukturprojekte steigt von 665 Mio. € im Jahr 2020 auf 2 Mrd. € im Jahr 2025. Gleichzeitig wurden die Förderschwellen abgesenkt und der Nachweis der Wirtschaftlichkeit erleichtert.

Das ist Rückenwind für den Verband der deutschen Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene. 2020 preschten sie mit einer Übersicht vor, nach der sich 238 Strecken mit insgesamt 4016 km Länge reaktivieren lassen. So ließen sich bundesweit 291 Orte mit mehr als 3 Mio. Menschen wieder anbinden.

Pendler haben Ansprüche

Prof. Gernot Sieg von der Uni Münster bremst etwas. „Man muss jede Strecke einzeln prüfen“, meint der Verkehrswissenschaftler und Volkswirt. Der Nutzen müsse die Kosten übersteigen. Das gelinge nur, wenn Pendlerströme von der Straße in die Bahn gelenkt werden könnten.

Die Fahrgäste bräuchten eine gute Taktung, Parkplätze für Fahrrad oder Auto am Bahnhof, möglichst wenige Umstiege und attraktive Tarife. „Der Reisekomfort in den Zügen sollte ähnlich dem im Pkw sein“, sagt er.

Gleichzeitig ermuntert er, den ­Autoverkehr unbequemer zu machen. „Wenn man in den Innenstädten wenige oder nur teure Parkplätze findet, wird die Bahn attraktiver.“

Aus wirtschaftlicher Sicht gibt es grünes Licht für zwei Projekte in Westfalen. Das Geld für die Reaktivierung der Strecke Münster–Sendenhorst auf den Gleisen der Westfälischen Landeseisenbahn (WLE) sowie die Strecke Harsewinkel–Verl auf den Gleisen der Teutoburger Wald Eisenbahn (TWE) ist bewilligt. Insgesamt stehen für Bau und ­Betrieb der beiden Strecken laut Landesverkehrsministerium bis 2031 rund 140 Mio. € bereit.

Schneller zur Arbeit

Die Reaktivierung der WLE befindet sich im Planfeststellungsverfahren. Die TWE-Strecke soll spätestens bis zum Sommer 2022 soweit sein. Vor allem die Dichte an großen Arbeitgebern wie Claas, Miele und Nobilia macht die Strecke attraktiv.

Mit dem Zug von Harsewinkel nach Gütersloh: Das soll bald wieder möglich sein. Bürgermeis­terin Sabine Amsbeck-Dopheide und Landwirt ­Andreas Höner haben dazu eine klare Meinung.

„Im Einzugsgebiet leben 26  000 Arbeitnehmer, die noch überwiegend mit dem Auto zur Arbeit fahren. Vor allem zum Schichtwechsel sind die Straßen voll“, sagt Anja Stocksieker vom Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL), der die Reaktivierung koordiniert. Der Zweckverband kalkuliert mit 3100 Fahrgästen täglich. Frühestens Ende 2025 sollen auf der Strecke akkubetriebene Bahnen mit 80 km/h fahren.

Doch bis neue Züge auf alten Strecken rollen, müssen einige Hürden genommen werden. Welche das sind, zeigt unsere Grafik in der pdf.

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