„Mein Haus verlasse ich nur mit den Füßen voran.“ Den Wunsch, bis zum Lebensende in den eigenen vier Wänden zu bleiben, haben viele Senioren. Wilfried Röwekamp aus Lübbecke-Nettelstedt verfolgt einen anderen Plan. Der 68-Jährige möchte sein Haus verkaufen und gemeinsam mit seiner Frau einen Neuanfang wagen.
„Im Alter möchten wir so leben wie im Urlaub“, beschreibt er seinen Traum. Statt des Zweifamilienhauses mit großem Garten soll es eine schicke, übersichtliche Wohnung sein. Und da das Ehepaar im Urlaub gerne einen Kaffee trinken geht, wünscht sich der Senior ein Café nebenan.
Wer hilft uns im Alter?
Bei all den Träumen ist der ehemalige Kirchmeister der Kirchengemeinde Nettelstedt auch Realist: Mit steigendem Alter wird das Paar Unterstützung benötigen. Anfangs beim Wocheneinkauf oder bei technischen Fragen, später möglicherweise in der Pflege. Es bedarf also mehr als einer altengerechten Wohnung allein. Vor einigen Jahren initiierte Wilfried Röwekamp de Rückbau des Gemeindehaus. Die Kirche wurde zukunftsweisend zum Gemeindezentrum umgebaut. Dabei wurde ein Grundstück frei. Zu seinen Freunden sagt er damals augenzwinkernd: „Hier bauen wir eine Alten-WG.“ Die Altersstruktur sollte gemischt sein, sodass die Bewohner sich im Alltag gegenseitig unterstützen könnten.
Anfangs war der Satz nur so daher gesagt. Doch die Idee ging ihm nicht aus dem Kopf. Das besagte Grundstück eignete sich bei genauerer Betrachtung nicht für das Vorhaben. Doch Wilfried Röwekamp verfolgte seinen Plan weiter. Auf der Suche nach Mitstreitern wandte er sich an die GBSL Bau- und Siedlungsgenossenschaft Lübbecke eG.
Direkt ins Pflegeheim?
Bei Geschäftsführer Achim Grube stieß Wilfried Röwekamp auf offene Ohren: „Wir haben hier auf den Dörfern eine Eigenheimquote von mehr als 80 % mit Grundstücken von 1000 bis 1300 m2. Die Kinder der Inhaber sind meist weggezogen, die obere Etage der Häuser steht oft leer.“
Die Nachfragenach derartigen Immobilien zu einem Kaufpreis von 150 000 bis 200 000 € sei überraschend hoch, so Grube. Doch bislang gibt es für die fitten Senioren kaum eine Alternative zum Leben in ihren eigenen Häusern. Wenn sie irgendwann doch ausziehen, dann erst, wenn sie pflegebedürftig sind und im Seniorenheim betreut werden.
„In den Städten existieren bereits verschiedene Konzepte für neue Wohnformen im Alter. Auch auf den Dörfern müssen wir uns dringend die Frage stellen: Wie möchten wir im Alter wohnen?“, ist Achim Grube überzeugt.
Das Konzept steht
Sieben Jahre ist es her, dass Wilfried Röwekamp die Idee für eine Senioren-WG kam. Mittlerweile haben er und seine Mitstreiter ein umfassendes Konzept mit dem Titel „Dorf im Dorf – Nachbarschaftlich und generationsübergreifend wohnen in Nettelstedt“ entwickelt. 2018 kaufte die GBSL als Investor im Ort eine ehemalige Hofstelle mit einer Fläche von 7500 m2 direkt am Nettelstedter Bach gelegen. Insgesamt wird die Genossenschaft 10 bis 12 Mio. € in das zukunftsweisende Projekt investieren.
Es gab Workshops mit knapp 50 potenziellen Mietern und Käufern, in denen sie ihre Wünsche einbringen konnten. Dabei ging es nicht nur um die Größe der Wohnungen und Gemeinschaftsräume, sondern auch um Fragen wie „Was heißt Gemeinschaft für uns?“, „Welche Unterstützung können und wollen wir uns als Nachbarn geben?“. Auch über die Pflege haben sich die Initiatoren Gedanken gemacht und das Diakonische Werk Lübbecke ins Boot geholt.
An Pflege ist gedacht
Die Diakonie wird auf dem Gelände eine Basisstation aufbauen, von der aus die Fachkräfte nicht nur die ambulante Pflege für einige der Bewohner des Projekts organisieren, sondern auch für die Menschen im gesamten Ort und der Umgebung. „Zusätzlich planen wir eine Wohngruppe mit elf Pflege-Appartements von gut 20 m2 in unserem ,Dorf im Dorf‘ zu errichten“, erläutert Achim Grube. Mit verschiedenen Arztpraxen laufen Gespräche, um vor Ort telemedizinische Sprechstunden anbieten zu können.
Kalkulation mit 3000 €/m2
Der vorhabenbezogene Bebauungsplan für das „Dorf im Dorf“ wird in den kommenden Wochen offengelegt. Die direkten Anwohner des Wohnprojekts haben bereits Beschwerde dagegen eingereicht. Ihnen missfällt unter anderem die Gestaltung der Gebäude. Wilfried Röwekamp und Achim Grube hoffen dennoch darauf, dass Ende 2020 der Satzungsbeschluss und im Frühjahr 2021 die Baugenehmigung vorliegen werden. „Erst dann können wir mit der konkreten Preisfin-dung beginnen und Verträge mitden zukünftigen Bewohnern abschließen“, sagt Achim Grube. „Bei den Wohnungen kalkulieren wir derzeit grob mit 3000 €/m2“, nennt er einen Richtwert. Bei Größen zwischen 50 und 130 m2 entspräche das einem Kaufpreis zwischen 150 000 und 390 000 €. Es wird jedoch auch Mietwohnungen geben.
In Gedanken eingerichtet
Sollte alles glattlaufen, sind die ersten Wohnungen im Frühjahr 2023 bezugsbereit. Dann kann Wilfried Röwekamp wie erträumt mit seiner Frau von der eigenen Wohnung zum Café flanieren. Ob es ihm schwerfallen wird, sein Haus zu verlassen, wenn esdann tatsächlich so weit ist? „Nein, überhaupt nicht“, sagt Wilfried Röwekamp bestimmt. Diese Frage hat er schon häufig gehört. „Für mich war es ein Prozess und der ist lange abgeschlossen.“ In Gedanken hat er die neue Wohnung bereits genau eingerichtet. „Ich könnte morgen schon mein Haus verkaufen und in die neue Wohnung einziehen. Meiner Frau geht es genau so.“
In lockerer Folge stellen wir „Dorfideen mit Weitblick“ vor – ein Kooperationsprojekt von Wochenblatt und Westfälischem Heimatbund, gefördert von der NRW-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege und der Provinzial Versicherung.