Agatha strahlt in tiefem Rot. Wenige Schritte neben der Heiligenfigur leuchten die Säulen des Chorraums in Regenbogenfarben. Sonniges Gelb wechselt zu frischem Grün und in tiefdunkles Lilablau. Orgelmusik erklingt, dann auch Gesang: „Wir sagen Euch an den lieben Advent …“
Wenig später steht der Chorraum der St.-Agatha-Dorfkirche von Werl-Holtum in klarweißem Licht. Ein Posaunenchor hebt an zum kraftvollen „Macht hoch die Tür“.
Ein Verein als Eigentümer
Wie von Geisterhand wechseln die Farben, Töne und Lieder. „Es sind die Besucher selbst, die hier Regie führen können“, sagt Klaus Halekotte. Der Holtumer hat die im Sauerland kursierende Idee der „Lichterkirche“ (siehe Kasten) eher durch Zufall entdeckt. Gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern hat er dafür gesorgt, dass die Anlage in Holtum installiert worden ist. „Wir wollten, dass Menschen gerne in unsere Kirche kommen und anschließend erzählen: ,Der Besuch war ein Erlebnis!‘“
„Meditationskirche“ nennt sich seit Kurzem die St.-Agatha-Kirche in Holtum. Sie steht mitten im 1100 Einwohner zählenden Hellwegdorf auf einem Hügel, von alten Linden umgeben. Doch auch wenn es so aussieht: Die Dorfkirche bildete nie das Zentrum einer Pfarrgemeinde. Vielmehr ist sie offiziell – eine Kapelle. Und noch eine Besonderheit: Sie befindet sich nicht etwa im Eigentum einer Pfarre, sondern gehört dem Holtumer „St.-Josefsverein“. Auch für die Instandhaltung und den Betrieb des Gebäudes ist der Verein zuständig, dem heute etwa 100 Mitglieder angehören.
Ein Dorf baut sich eine Kirche
All diese Besonderheiten sind nur beim Blick in die Vergangenheit zu verstehen. Über Jahrhunderte war Holtum kaum mehr als eine lockere Siedlung bäuerlicher Hofstätten am Hellweg. Kirchlich gehörte es zur Pfarre im Nachbardorf Büderich. Immerhin gab es lange eine Fachwerkkapelle in Holtum, gestiftet 1746 von einem Landwirt. Gut anderthalb Jahrhunderte später war sie baufällig. Es sei eine „Notsache“, in Holtum eine neue Kapelle zu bauen, meinte damals der Büdericher Pfarrer. Die Holtumer machten rasch Nägel mit Köpfen – oder besser: Sie bauten sich eine neue Kapelle. Doch sie sollte wie eine „echte“ Kirche aussehen – so, wie es sie längst in den Nachbardörfern gab: mit Turm, einem großzügigen Kirchenraum mit 160 Sitzplätzen, einer Sakristei, vier Glocken, einer Turmuhr – und was sonst noch alles zu einer „echten“ Kirche gehörte.
Um den Bau zu finanzieren, hoben die Holtumer den St.-Josefsverein aus der Taufe. Er war Bauherr und ist, wie gesagt, bis heute Eigentümer. Spenden und Kollekten brachten damals das Geld zusammen. Bei größeren Reparaturen wurden Umlagen fällig.
Um den Betrieb der Kirche zu sichern, ließen sich die Holtumer noch etwas Besonderes einfallen: Alle Jagdpachtgelder flossen in die Kasse des Vereins. Bis in die 1960er-Jahre hielt man daran fest.
„Fast verlassener Bau“
Die Dorfkirche bildete den Mittelpunkt eines regen religiösen Lebens. Doch inzwischen hat sich vieles gewandelt. Der Kern der aktiven Gläubigen ist geschrumpft. Die Distanz der Pfarrverwaltung ist gewachsen – selbst in Büderich gibt es keine eigenständige Pfarrei mehr. Vielmehr ist sie mit Holtum Teil der Großgemeinde „Propstei Werl“ geworden.
Heute finden in Holtum noch zwei reguläre Gottesdienste im Monat statt. Außerdem ist die Kirche bei Hochzeitspaaren aus dem Umland beliebt, die sie als Ort ihrer Trauung wählen. Doch reicht das? Der zwölfköpfige Vorstand des St.-Josefsvereins stellte sich ernste Fragen: „Soll dieses Wahrzeichen Holtums zu einem Denkmal an vergangene Zeiten werden? Sollte der liebe Gott hier in seiner Kirche ständig allein sein? Gibt es für einen fast verlassenen Kirchbau noch Rettung in der modernen Zeit? Was kann Menschen heute bewegen, die Kirche aufzusuchen?“
Bei der Suche nach einer Antwort stieß Klaus Halekotte eher zufällig auf die Lichterkirche. Der Vereinsvorstand stimmte zu, und wieder wurden in Holturm rasch Nägel mit Köpfen gemacht: Im Sommer 2019 wurden Lautsprecher, Strahler und digitale Technik installiert. Eigenleistungen der Vereinsmitglieder konnten die Kosten niedrig halten. Dennoch waren am Ende 20 000 € fällig – das Erzbistum Paderborn half mit einer kräftigen Förderung. Im September 2019 konnte die „Meditationskirche“ eröffnet werden.
Musik, Farben, Gedanken
Wer sie betritt, steht nach wenigen Schritten vor einem hüfthohen Bildschirm, etwa so groß wie eine ausgebreitete Tageszeitung und aufgestellt wie ein Stehpult. „Sie sind herzlich eingeladen, die Atmosphäre dieser Kirche mit Musik, Farben und Gedanken persönlich zu gestalten“, ist darauf zu lesen. Wahlfelder leuchten mit Aufschriften wie „Begrüßung & Erklärung“, „Kinderkirche“ oder auch „Adventszeit“. Das Tippen auf weitere Felder führt zu Meditationstexten oder Gebeten zu Themen wie „Kraft schöpfen“, „Traurigkeit“, „Freude“ oder „Dankbarkeit“. Die Texte hat der evangelische Pfarrer Ulf Weber eingesprochen – gewissermaßen ein Stück Ökumene in der Dorfkirche.
Das alles ist mit einem Finger oder Corona-sicher mit einem Berührungsstift zu bedienen. Auch wer noch nie ein elektronisches Gerät in Händen gehalten hat, weiß, was zu tun ist – und findet sich für 5 bis 15 Minuten umgeben von Worten, Tönen und Lichtstimmungen.
Die Kirche steht von 10 bis 21 Uhr offen. Kurz nach Eröffnung habe es einen kleineren Diebstahl gegeben, ansonsten aber keinen weiteren Schaden – „wir vertrauen auf das Gute“, sind sich die Vorstandsmitglieder einig.
Die Resonanz hat längst alle Erwartungen übertroffen. „Was für ein schöner Raum“ – „Echt cool hier“ – „Danke für diesen Ort“ oder auch „Wir waren sehr gerne hier“: Solche Einträge füllen das Gästebuch der Kirche.
„Wir haben hier noch nie so viele Leute gesehen, gerade auch Ortsfremde“, freut sich Halekotte mit den anderen Vorstandsmitgliedern des St.-Josefsvereins. „Es vergeht kein Tag, an dem nicht Menschen in die Meditationskirche kommen. Sie spricht offenbar viele Menschen unterschiedlichen Alters an und bringt sie in Berührung mit Gott.“
An Weihnachten offen
Und in diesen Corona-Tagen? Statt 160 dürfen maximal 28 Personen hinein. Schon deswegen kann die sonst übliche Krippenfeier der Kinder und die Christmette an Heiligabend in diesem Jahr nicht stattfinden. Aber die „Kapelle“ bleibt auch an den Feiertagen offen – mitten im Dorf als Ort weihnachtlicher Klänge, Ruhe und Stille.
Licht und Klang für Dorfkirchen
Die Idee der „Lichterkirche“ geht auf den evangelischen Pfarrer Ulf Weber zurück. Er hat sie ursprünglich für die Kirche in Rattlar bei Willingen entwickelt. Im Oktober 2014 erstrahlte dort erstmals die Dorfkirche im neuen Licht.
Das Zusammenspiel von Licht, Ton und Musik, von Strahlern, Lautsprechern und Touchscreen hat Ulf Weber gemeinsam mit seinem Sohn Lars ausgetüftelt. Das „Mediale Kirchensystem“, wie sie es nennen, haben sich die beiden inzwischen sogar patentieren lassen.
Inzwischen wurde es in mehreren Dorfkirchen installiert, die meisten davon im ländlichen Westfalen: beispielsweise in
● Gleidorf (Schmallenberg),
● Kallenhardt (Rüthen),
● Deuz (Netphen) und
● Oberschledorn (Marsberg).
Derzeit wird es in Kirchen in Oeventrop, Ramsbeck und Schmerlecke eingebaut.
Über das System kann jede Gemeinde eigene Inhalte, Lieder und Texte bereitstellen. Pfarrer Weber bietet unter anderem Meditationen, wechselnde Andachten, Lieder, Kindergeschichten oder auch Texte für Jugendliche an. „Die meisten Gemeinden nutzen unsere ökumenischen Inhalte, die als Grundkonzept beibehalten und jederzeit ausgetauscht werden können.“
Die Kosten hängen von der jeweiligen Ausstattung, von eventuellen Renovierungsarbeiten und von der ehrenamtlichen Mitarbeit ab. Einige Bistümer oder Landeskirchen unterstützen die Finanzierung. Auch Mittel aus dem EU-Förderprogramm für ländliche Räume („Leader“) fließen mancherorts in den Einbau der Lichterkirche.