Wer bestimmt, was wir essen? Diese Frage ist für die ganze Gesellschaft wichtig, denn es geht um Volksgesundheit, Ökonomie und Nachhaltigkeit. Auch für die Landwirtschaft ist sie zentral: Auf dem Feld und im Stall wird produziert, was heute und in Zukunft nachgefragt wird. Aber wen meint dieses „wir“?
Einheitliche Konsummuster gibt es nicht mehr. Die Gesellschaft ist vielschichtig – zahlreiche Religionen und Ethnien prägen das Leben, und wir definieren uns kaum mehr alleine über unsere Herkunft, sondern bekennen uns zu Lebensstilen. Was genau auf dem Teller landet, ist grundsätzlich von historischen und kulturellen, schichtspezifischen und individuellen Faktoren abhängig. Wert- und Moralvorstellungen, Alter und Geschlecht sind ebenso prägend wie Bildung und Einkommen.
Wunsch und Wirklichkeit
Das Beispiel Fleisch zeigt, wie stark Lebensmittel symbolisch aufgeladen sind: Fleisch stand lange für gutes Leben und hochqualitative Ernährung, für Reichtum und Prestige. Obwohl in jüngster Zeit vor allem bei städtischen Eliten und in den Medien in Verruf geraten, ist regelmäßiger Fleischkonsum bei vielen so stark kulturell „eingraviert“, dass sie nicht vom Fleisch lassen mögen. Das liegt auch daran, dass vertraute Ernährung besonders in Zeiten von Ungewissheit und Krise emotionale Sicherheit spendet.
Diese Sicherheit wird permanent erschüttert. Es sind vor allem Medien, die vorgeben, wie Ernährung aussehen sollte, nämlich gesund und nachhaltig. Essen muss zusätzlich dekorativ und fotogen sein, denn Social-Media-Kanäle sind Instrumente der Selbstinszenierung. Außerdem ist Essen zum Körperstyling-Instrument geworden, das muskulös und/oder schön macht.
Besonders wichtig sind Beauty- und Food-Influencer. Ihr jugendliches Publikum geht in die Millionen. Gegen sie haben wissenschaftlich basierte Ratschläge der Expertinnen und Experten kaum eine Chance.
Wunsch nach engem Kontakt mit der Natur
Anders sieht es mit Ernährungsidealen aus, die sich auf umweltpolitische Themen beziehen und damit verbundene Ideale einer tierethischen, regionalen oder saisonalen Ernährung verbreiten: Sie werden vor allem von Leitmedien formuliert.
In der globalisierten Welt ist der Wunsch nach engem Kontakt mit der Natur als Lebensmittellieferant stärker geworden. Aber dieser Wunsch wird in der Ernährung nur selten realisiert. Bioschweinefleisch kommt nur auf einen Marktanteil von 0,6 %. Das obere Bevölkerungsviertel der Besserverdienenden folgt dem Leitbild der regionalen und ökologisch erzeugten Produkte eher. Für die Mehrheit aber wird das industrielle Lebensmittelsystem trotz des Trends zu mehr Transparenz und Regionalität wichtig bleiben.
Lebensmittelsektor und Handel ist gefragt
Eine Transformation der Konsumgewohnheiten dürfte künftig vor allem von zwei viel gescholtenen Akteuren beeinflusst werden: von den Lebensmittelherstellern und vom Handel. Nachhaltige Veränderungen werden vom Lebensmittelsektor vor allem dann vorangetrieben, wenn dieser Prozess Profite verspricht.
Pflanzenbasierte Fleisch- und Milchersatzprodukte haben auch aufgrund des Trends zu Vegetarismus und Veganismus Potenzial. Das zeigt etwa das Familienunternehmen „Rügenwalder Mühle“, das seit 2020 mehrheitlich und erfolgreich vegetarische Fleischersatzprodukte anbietet.
Zudem sehen wir, dass die Politik diesen Trend aufgreift und im Rahmen des „Green New Deal“ der EU den Lebensmittel- und Agrarsektor zunehmend klimagerechter gestaltet. Damit sind wir bei der Rolle des Staates. Hier deutet sich ein Paradigmenwechsel an. Bislang oblag die Verantwortung für eine nachhaltige und gesundheitsbewusste Ernährung in Deutschland vor allem dem Einzelnen.
„Labeling“ und „Nudging“
Staatliche Eingriffe oder gar Verbote wurden kritisch beäugt. Inzwischen aber findet die Einsicht zunehmend Akzeptanz, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die des Anderen beginnt – dies gilt für die monströsen gesellschaftlichen Folgekosten gesundheitsschädlicher Ernährung ebenso wie für Konsequenzen klimaschädigender Konsummuster.
Immer mehr Menschen sind bereit, beschränkende staatliche Maßnahmen zu tolerieren: Etiketten, Siegel und „Labeling“ für verantwortungsbewusste Kaufentscheidungen, das Setzen von Anreizen und oder Konsumimpulsen („Nudging“) oder auch Subventionen haben die Chance, mehrheitsfähig zu werden.
Und das Fazit?
Kurzum: Was wir essen, ist bestimmt von historischen Prägekräften, wirtschaftlichen Dynamiken, politischen Interventionen, medial vermittelten Idealen und individuellen Entscheidungen. Die Entscheidung verläuft nicht linear, also nicht einfach vom Produzierenden zum Konsumierenden, nicht vom „Wer“ zum „Wir“, sondern kreuz und quer zwischen den Einzelnen in einer heterogenen Gesellschaft, zwischen Social Media, Boulevard- und Leitmedien, Wirtschaft und Staat. Nachhaltige Veränderungen können aber kaum durch Anweisungen und bloße Imperative bewirkt werden, sondern nur durch gut begründete ernährungspolitische Maßnahmen, die mehrheitsfähig sind.
Unser Gastautor Gunther Hirschfelder ist Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg und Autor zahlreicher Studien zur Ernährung. Soeben erschienen ist der von ihm herausgegebene Band: „Wer bestimmt, was wir essen? Ernährung zwischen Tradition und Utopie, Markt und Moral“ (Verlag Kohlhammer, 190 Seiten, 19 €).
Lesen Sie mehr: