Jeder Mensch benötigt eine regelmäßige Zufuhr von Nährstoffen, die abhängig von Alter und Geschlecht zu etwa 50 bis 65 % aus Kohlenhydraten bestehen sollte, zu 15 bis 25 % aus Eiweiß und zu 20 bis 30 % aus Fett. Abhängig von Alter und Geschlecht und körperlicher Tätigkeit liegt der Energiebedarf ungefähr zwischen 1600 und 2500 Kilokalorien pro Tag. Dieser Bedarf ist durch die Natur, durch unseren Körper vorgegeben. „Er unterliegt keinen Moden“, unterstreicht Gunther Hirschfelder. Er ist Professor in Regensburg und befasst sich seit Langem mit dem, was bei uns auf dem Teller landet.
Körper, Klima, Kindheit
Neben unserer Biologie spielen aber noch weitere Bedingungen eine Rolle für das, was wir essen und trinken: Klima und Geografie etwa. In Norddeutschland wird nun einmal seltener Wein getrunken als im sonnenreicheren Baden oder in der Pfalz – um mal ein schlichtes Beispiel zu nennen.
Die regionale (Agrar-)Wirtschaft ist also wichtig für die Ernährungskultur, aber es wirken auch Religion und Tradition. Gerade die persönlichen Erfahrungen der Kindheit sorgen für „eingravierte Muster“ beim Essen, so Hirschfelder. Und er erläutert:
„Menschen hegen eine Vorliebe dafür, Dinge zu essen, die sie an eine sorgenfreie, geborgene Zeit erinnern, an die schöne Kindheit. Ob Kartoffelsalat mit Bockwurst, Brötchen mit Schokocreme oder das türkische Frühstück ,Kahvalti‘ – den Geschmack der Kindheit wird niemand so leicht los, es sind dies die schwersten Gepäckstücke in jenem kulturellen Rucksack, der uns durch das ganze Leben begleitet.“
Aber tragen alle denselben „Rucksack“? Über diese Frage hat vor geraumer Zeit der Lebensmittelkonzern Nestlé nachgedacht – oder besser: nachdenken lassen. Das Allensbach-Institut für Demoskopie hat dafür komplexe Befragungen angestellt und am Ende sieben Ernährungstypen gefunden. Hinter jedem Typ verbirgt sich ein bestimmter Teil der Bevölkerung – und damit auch ein jeweils zugehöriger Food-Trend.
Essen wie in der Steinzeit?
Der Alltag des Essens in Deutschland ist mit dem Modell gut beschrieben, urteilt Gunther Hirschfelder. Und er fügt hinzu: „Dieses Schema funktioniert jedenfalls besser als die vor allem medial kommunizierten Trendschemata, die etwa Frutarier, Flexitarier, Veganer oder Anhänger von Low-Carb- oder Paläo-Diäten auflisten.“
Teils sind deren Essensregeln beliebig – so etwa bei den Flexitariern. Teils ist der vermeintliche Trend gar keiner. Der Paläo-Diät beispielsweise hängt nur eine vergleichsweise kleine, überschaubare Gruppe an. Außerdem orientieren sie sich an einer angeblichen Steinzeitküche, die selbst Archäologen kaum kennen und die es in dieser Form und Einheitlichkeit nicht gegeben hat, schon gar nicht über Hunderttausende Jahre gleichbleibend. Kurzum: Diese Mode ist ganz offenkundig eine Luftnummer.
Ich zeige, was ich esse
„Weihnachten isst es jedermann, Ostern, wer es eben kann, Pfingsten nur der reiche Mann“ – dieser Spruch war in früheren Zeiten in Umlauf, wenn es um den Verzehr des fein ausgemahlenen und deshalb besonders teuren Weißbrotes ging – und um die Frage, wer sich das leisten konnte.
Das Beispiel zeigt: Ernährung diente und dient stets auch der Unterscheidung gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten. Heute ist Essen darüber hinaus Teil der eigenen Gruppenidentifikation und Selbstdarstellung geworden – vielleicht stärker denn je. Vor allem die Selbstinszenierung, also das Fotografieren des eigenen Essens und dessen möglichst makellose Darstellung in den „sozialen“ Medien, hat in einem Ausmaß zugenommen, der noch vor einigen Jahren undenkbar war.
Auch das ist ein Food-Trend, und er bewegt große Teile unserer Gesellschaft. Das überwiegend jugendliche Publikum der Beauty- und Food-Influencer „geht in die Millionen“, so der Ernährungsforscher Gunter Hirschfelder. „Gegen sie haben wissenschaftlich basierte Ratschläge der Expertinnen und Experten kaum eine Chance.“
Vegan und vegetarisch
Inzwischen relevant und weiter wachsend ist der Trend zur fleischarmen oder fleischlosen Ernährung. Die Gruppe derer, die sich vegan bzw. vegetarisch ernähren, wächst: 2015 sahen sich in Deutschland rund 6,2 Mio. Menschen in dieser Gruppe. Heute sind es etwa 9,5 Mio. Menschen. Hier spielen tierethische Gründe ebenso eine Rolle wie gesundheitliche Erwägungen oder ökologische Bezüge.
Diese Entwicklung ist also alles andere als eine Luftnummer. „Der Peak der Veganisierung ist noch längst nicht erreicht“, meint Hanni Rützler, die als Ernährungswissenschaftlerin für das Zukunftsinstitut in Frankfurt arbeitet und seit Langem die Entwicklungen im Lebensmittelsektor beobachtet.
Es gebe wohl in fast jeder Küche dieser Welt Gerichte, die immer schon vegan waren. Wo heute noch Fleisch, Wurst, Eier, Milch und Käseprodukte eingesetzt werden, sei die Suche nach Alternativen in vollem Gange, beobachtet Rützler. „Veganising Recipes“ nennt sie diesen Trend. Also etwa: Veganisierung von Rezepten. Das geschehe teils durch Hightech-Ersatzprodukte, teils durch Verwendung von Pilzen, Kräutern, Hülsenfrüchten, Algen, Apfelmus oder Kichererbsenwasser. „So wie Chili sin Carne inzwischen genauso anerkannt ist wie Chili con Carne, wird es weitere Klassiker aus den verschiedensten Küchen geben, die sich als gleichwertige Alternativen durchsetzen.“
Hirschfelder hat noch einen Trend ausgemacht – nämlich das, was er „neuen Pragmatismus“ nennt. In Bezug auf technische Neuerungen wie In-vitro-Fleisch oder Genfood herrscht demnach keineswegs nur technikfeindliche Ablehnung, sondern durchaus Offenheit und Neugier. Die Angst vor technisch veränderten Lebensmitteln scheint zu schwinden.
Corona, Krieg und Krise
Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die dadurch ausgelöste Krise der kontinentalen Wirtschaft wirken sich ebenfalls auf die Ernährung aus. Folgt man Hanni Rützler vom Frankfurter Zukunftsinstitut, dann sortiert sich gerade die globale Lebensmittelproduktion neu – mit Schwerpunkt auf regionales und nachhaltiges Wirtschaften. Der Wandel reagiere auf eine „rücksichtslos globalisierte Nahrungsmittelindustrie“ und auf die Abhängigkeiten globalisierter, aber eben auch zerbrechlicher Lieferketten.
Laut Gunther Hirschfelder öffnet sich gerade eine Schere: Einerseits sei „im Bereich der Lebensmittel mit einer Ausweitung des Luxussegments für gesundheitsbewusste Hedonisten mit Vorliebe für hochwertige und sichere Produkte“ zu rechnen. Andererseits werde die wachsende Armut zu steigender Preissensibilität und sinkendem Qualitätsanspruch führen.
Wir sehen: Food-Trends haben viele Gesichter. Nicht alle gefallen allen.
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