Die Taten beginnen wie zufällig. Erst sitzt Antonius Kock als 13-Jähriger auf dem Schoß des Geistlichen. Dann rutschen dessen Finger unter sein Hemd. Übergriffig empfindet der Schüler das Verhalten erst, als der Pater anfängt ihn zu küssen.
Antonius Kock, heute 69 Jahre alt, ist damals Schüler am Gymnasium der Mariannhiller Missionare in Maria Veen (Kreis Borken). Als Elfjähriger ist er in das Internat gezogen. Seitdem kommt er nur noch in den Ferien und an jedem vierten Wochenende nach Hause. 12 km liegen zwischen der Schule und dem Hof in Merfeld (Kreis Coesfeld), im Alltag sind es Welten. Die Kinder bewegen sich nur zwischen Schule, Sportplatz und Schlafräumen. Die Lehrer und Patres sind Respektspersonen. Ihr Wort hat Gewicht, auch gegenüber den Eltern.
Antonius Kock stammt aus einer tief katholischen Familie. Mit ihm wachsen fünf Geschwister auf dem Hof auf. Bei Fragen und Problemen wendet man sich nicht an Psychologen. Man fragt den Pastor um Rat.
Von Heimweh geplagt
Schulisch kommt Antonius gut zurecht. Die pubertierenden Klassenkameraden distanzieren sich aber immer mehr von den Autoritätspersonen, er nicht. Das macht ihn zum Außenseiter. Diese Situation nutzt der Täter, um Vertrauen aufzubauen. Als Hausökonom ist er nicht in das System der Schule eingebunden. Irgendwann nimmt er den Jungen mit auf sein Zimmer. In kleinen Schritten weiten sich die Übergriffe aus. Über zwei Jahre geht das immer wieder so. Wem hätte er sich anvertrauen können? „Niemand hätte mir geglaubt.“
Schulwechsel als Ausweg
Einen Weg, dem Pater zu entrinnen, findet Antonius erst in der zehnten Klasse. Gemeinsam mit einem Mitschüler verlässt er die Schule, sehr zum Ärger der Schulleitung, die beide für den ersten Abiturjahrgang der Schule eingeplant hatte. Zwei Jahre später geht auch der Täter.
Antonius Kock macht das Abitur in Coesfeld und kehrt nach dem Studium in Münster nach Maria Veen zurück, als Lehrer für Mathematik, Pädagogik und Informatik. Der Missbrauch, das waren für ihn damals Übergriffe einer einzelnen Person, die nichts mit dem Kloster und der Schule zu tun hatten.
Das ändert sich im Jahr 2010. Ein anonymes Opfer berichtet über Missbrauch bei den Mariannhiller Missionaren. Als der Orden die Vorwürfe massiv zurückweist, sucht Antonius Kock das Gespräch mit einem Pater und macht seinen Missbrauch öffentlich. Im Laufe des Jahres wird klar: Jedes Internat ist betroffen. Der Missbrauch in Maria Veen ist nur ein winziger Teil eines Skandals, der die gesamte katholische Kirche erfasst und in ihren Grundfesten erschüttert.
Selbsthilfe für Betroffene
Antonius Kock schließt sich einer Selbsthilfegruppe in Rhede an, 2019 wird er Sprecher einer neuen Gruppe in Münster. Die monatlichen Treffen bieten den Teilnehmern einen geschützten Raum, in dem sie das Erlebte aussprechen und sich austauschen können. Welche verheerenden Auswirkungen sexueller Missbrauch haben kann, wird auch in der aktuellen Studie deutlich. Dazu gehören Ängste und Schuldgefühle, Bindungsprobleme und ein geringes Selbstbewusstsein.
Beim Bistum setzt sich Antonius Kock für einen angemessenen Umgang mit den Betroffenen ein. Dabei nimmt er aber immer wieder ein deutliches Machtgefälle zwischen Bistum als Apparat und den Betroffenen als Einzelpersonen wahr. Die aktuelle Studie habe Betroffene vorbildlich einbezogen, sagt er. Ähnliches wünscht er sich von der Aufarbeitung in Orden, die vielerorts noch aussteht.
Düstere Zahlen aus dem „Hellfeld“
Zweieinhalb Jahre lang haben vier Historiker und eine Sozialanthropologin der Universität Münster den sexuellen Missbrauch im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 erforscht. In der vergangenen Woche haben sie ihre Ergebnisse vorgestellt. Das Bistum hat die Studie in Auftrag gegeben und mit 1,3 Mio. € finanziert. Die Forschenden arbeiteten unabhängig und hatten vollen Zugang zu den Akten des Bistums.
Insgesamt haben sie die Fälle von 196 bekannten Tätern analysiert. Darunter sind 183 Priester, ein ständiger Diakon und 12 Brüder einer dem Bischof unterstellten Ordensgemeinschaft. Die Zahl der Täter entspricht etwas mehr als 4 % aller Priester im Bistum.
610 Kinder und Jugendliche haben sie nachweislich missbraucht. Die Forschenden sprechen von einem sogenannten „Hellfeld“. Das Dunkelfeld sei etwa acht- bis zehnmal größer. Nach ihrer Einschätzung könnten also bis zu 6000 Minderjährige betroffen gewesen sein. Das Tatgeschehen sei vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren ausgeprägt gewesen.
An einer ähnlichen Studie arbeiten Forschende zurzeit für das Erzbistum Paderborn.
- Die Studie unter dem Titel „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche – Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher
im Bistum Münster seit 1945“ steht auf der Internetseite der Uni Münster kostenlos bereit.- Der Leiter der Studie, Prof. Dr. Thomas Großbölting (ehemals Universität Münster, jetzt Universität Hamburg) hat parallel ein Buch veröffentlicht, das aus einem weiteren Blick auf das Thema schaut: Die schuldigen Hirten – Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Herder, 288 Seiten, ISBN: 978-3-451-38998-6, 24 €.