Im Jahr 1902 erwarb der jüdische Viehhändler Philipp Baum aus Dortmund-Huckarde den Gutshof Beckhaus in Ergste unweit der Ruhr. Baum erfüllte sich damit einen Lebenstraum. Er wollte das Gut „zu einem dauernden Familiensitz“ werden lassen, wie sich ein Neffe später erinnert.
Mit dem Kauf des Anwesens, dessen Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, sah sich Baum offenbar „angekommen“ in der ländlich-kleinstädtischen Gesellschaft Westfalens. Diesen Status wollte er seinen Kindern und Enkelkindern sichern. „Dieses Grundeigentum soll niemals verkauft werden können“, legte Baum im September 1923 per Testament fest, „auch nicht von unseren Kindern oder dessen Erbnachfolgern.“ Um den Wunsch hervorzuheben, fügte er hinzu: „Erbnachfolger sollen nur direkte Blutsverwandte werden können.“
Mit diesen Worten unterstrich Baum, welch hoher Stellenwert der Hof für ihn und seine Familie hatte: als Ruhepunkt inmitten einer ländlichen Lebenswelt, aber auch als sichtbares Symbol der Integration in die nichtjüdische, ländlich-kleinstädtische Gesellschaft. Wie brüchig diese Integration war, sollte sich indes bald erweisen.
Das erste NS-Gesetz mit Begriff des „jüdischem Blutes“
Im September 1933 erließ das NS-Regime, begleitet von großem propagandistischem Aufwand, das „Reichserbhofgesetz“. Es atmete den Ungeist von „Blut und Boden“, von Rasseideologie und völkischem Denken. Schon in der Präambel heißt es:
„Die Reichsregierung will unter Sicherung alter deutscher Erbsitte das Bauerntum als Blutsquelle des deutschen Volks erhalten. Die Bauernhöfe sollen vor Überschuldung und Zersplitterung im Erbgang geschützt werden, damit sie dauernd als Erbe der Sippe in der Hand freier Bauern verbleiben.“ Gemäß § 13 konnte Erbhofbauer „nur sein, wer deutschen oder stammesgleichen Blutes ist“; ausgeschlossen wurde, wer „unter seinen Vorfahren väterlicher- oder mütterlicherseits jüdisches oder farbiges Blut hat“.
Ausschluss, Boykott, Verbot
Das Reichserbhofgesetz vom September 1933 schloss also ausdrücklich jüdische Landwirte und Grundeigentümer von der „Erbhoffähigkeit“ aus. Und mehr noch: Das Reichserbhofgesetz war das erste Gesetz des NS-Regimes, das den Begriff des „jüdischen Blutes“ benutzte und als entscheidendes Kriterium einführte.
Für Landjuden, jüdische Landwirte und Grundeigentümer kam in den folgenden Jahren eine Fülle weiterer Einschränkungen, Sonderregelungen und Verboten hinzu:
- „Volljuden“ und „Mischlinge“ wurden von der Landhilfe ausgeschlossen.
- Auf „arischen Erbhöfen“ durften Jüdinnen und Juden weder ausgebildet oder angestellt werden.
- Der Handel mit Vieh war laut Verordnung vom 25. Januar 1937 nur noch „deutschstämmigen“ Viehhändlern erlaubt. Sie bedurften überdies einer besonderen Zulassung, die nur bei „persönlicher Zuverlässigkeit“ erteilt wurde. Diese Zulassung wurde in Westfalen nur 170 von 448 Viehhandelsbetrieben erteilt.
- Der Kauf bzw. Verkauf von Acker- oder Waldflächen stand ebenfalls seit Januar 1937 unter scharfer staatlicher Kontrolle und war Juden faktisch untersagt. Trete ein Jude als Käufer auf, so hieß es in der Führung des Reichsnährstandes, dürfe dies nicht genehmigt werden, weil dadurch „bei der heutigen Auffassung von Blut und Boden das öffentliche Interesse verletzt“ sei.
- Boykottmaßnahmen erschwerten es Juden schon 1933, Märkte zu beschicken. Spätestens ab 1938 war dies vollständig untersagt, ebenso auch die Mitgliedschaft in einer der ländlichen Genossenschaften. Damit war es für sie unmöglich geworden, Betriebsmittel wie Pflanz- und Saatgut, Dünger oder landwirtschaftliches Gerät zu erwerben.
Den Pogromen folgte die Enteignung
Nach den Pogromen im November 1938 schließlich wurde den jüdischen Landwirten und Landbesitzern buchstäblich der Boden entzogen. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 nahm nicht nur die staatliche Enteignung und Zerschlagung jüdischer Unternehmen in Industrie, Handel, Gewerbe und Dienstleistungen in den Blick, sondern auch in der Land- und Forstwirtschaft.
Die Behörden des Reichsnährstandes waren aufgefordert, die dafür notwendigen Daten zu ermitteln. Diese Statistiken standen bereits unter dem Eindruck von Repressalien, Flucht und vorherigen Verkäufen unter Zwang, liefern aber für 1938 einen Überblick. Demnach besaßen die deutschen Juden insgesamt 45.900 ha Land, das sich im Eigentum von 12.000 „Besitzeinheiten“ befand. Die Durchschnittsgröße einer Hofstätte in jüdischem Besitz betrug deutschlandweit 3,8 ha.
In Westfalen zählten die Beamten der Siedlungsbehörden bzw. der NS-Landesbauernschaft 1938 noch 807 jüdische „Besitzeinheiten“ mit insgesamt rund 1756 ha, in Lippe-Detmold kamen sie auf 45 „Besitzeinheiten“ mit zusammen 113 ha. Die durchschnittliche Größe lag demnach bei rund 2,2 ha in Westfalen, bei 2,5 ha in Lippe.
Meist handelte es sich um das schmale Eigentum etwa von Obst- und Gemüsegärten in den Dörfern, von Viehweiden oder Kartoffel- und Rübenäckern, die vornehmlich der Eigenversorgung dienten.
Zahlen zur "Arisierung des Grundbesitzes"
Bis Ende 1942 waren nahezu sämtliche jüdischen Grundeigentümer in Deutschland enteignet. Die Verfügungsgewalt über die Flächen lag in Händen der regionalen halbstaatlichen Siedlungsgesellschaften, die den Weiterkauf der Flächen organisierten.
In Lippe war dieser Schritt bereits zu einem frühen Zeitpunkt abgeschlossen. Schon im Dezember 1940 waren hier sämtliche Flächen und Güter aus ehemals jüdischem Besitz verkauft bzw. „arisiert“ worden – das war, sieht man von Hamburg ab, deutschlandweit einzigartig.
In Westfalen wurden bis Juni 1942 84 % der Flächen aus ehemals jüdischem Besitz veräußert. Der Rest befand sich weiterhin im Eigentum bzw. in Verwaltung der Siedlungsgesellschaft „Rote Erde“.
Bis zum Sommer 1942 hatten in Westfalen Flächen im Wert von 3,02 Mio. Reichsmark den Besitzer gewechselt. Als Käufer offiziell genannt sind Landwirte (2 %), Kommunen (13 %) und die Siedlungsgesellschaft „Rote Erde“ (6,8 %), vor allem aber, so heißt es in der amtlichen Statistik für Westfalen, „sonstige Käufer“.
Die Arisierung von Gärten, Wiesen und Ackerland war, wie die Historikerin Verse-Hermann bündig geurteilt hat, ein „Bereicherungsgeschäft für viele“. Manche nahmen davon Abstand, die ohnehin unter Druck stehenden, ja an Leib und Leben gefährdeten jüdischen Verkäufer ebenfalls zu erpressen bzw. ihre Situation zu eigenen Gunsten zu nutzen, wie der Historiker Avraham Barkai schildert. Insgesamt aber überwiegt nach seinem Urteil das Bild „einer widerlichen und habgierigen Preisdrückerei, die vor keinem Mittel zurückschreckte, um den größtmöglichen Vorteil herauszupressen“.
Wie die "Arisierung" ablief: Das Beispiel des Gutes Baum in Ergste
Doch was genau bedeutete der abstrakte Begriff der „Arisierung“? Wie verlief diese Form der Enteignung im Einzelnen? Antworten liefert beispielhaft der Fall des eingangs beschriebenen Gutes Baum in Ergste: 1930 hatte Philipp Baum die Arbeit im Stall und auf den Feldern aus Altersgründen aufgegeben. Das Gut verpachtete er für eine Laufzeit von zwölf Jahren an einen Landwirt aus Stockum bei Unna. Ein Jahr später, 1931, starb Baum. Seine Kinder bildeten nach seinem Tod eine Erbengemeinschaft, zogen sich aber ansonsten – entgegen den Wünschen des Vaters – aus der aktiven Landwirtschaft zurück.
Nur eine Woche nach den Pogromen vom 9./10. November 1938 wechselte das Gut mit allen zugehörenden Ländereien den Eigentümer – und das unter bis heute nicht genau geklärten Begleitumständen. Bei dem Verkaufsakt in Schwerte war kein Kind und kein Erbe Philipp Baums anwesend. Auch sonstige Angehörige der Eigentümerfamilie fehlten. Die erbenden Geschwister Baum wurden von einem „Bevollmächtigten“ vertreten, den sie weder bevollmächtigt hatten noch überhaupt kannten.
Der Hagener Landwirt Fritz Weyergraf erwarb das Gut. Er bewirtschaftete zu diesem Zeitpunkt ein rund 300 ha großes Pachtgut bei Hagen. Für seinen neuen Besitz hatte er 205.000 Reichsmark zu zahlen.
Allerdings bezog sich diese Summe nur auf einen Teil des Gutes. Ein anderer Teil war zuvor abgetrennt und von der Siedlungsgesellschaft „Rote Erde“ übernommen worden. Bezahlt wurde dafür nichts. Diese Teile des Hofes seien entschädigungslos beschlagnahmt worden, stellte später einer der Erben Philipp Baums fest. Es sei nicht einmal der Wert dieses Anteils festgestellt worden.
Philipp und Martha Baum hatten vier Kinder. Deren Lebenswege im Zeichen der Shoah, der Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland und Europa, lassen sich aus den Akten des späteren Wiedergutmachungsververfahrens nachzeichnen:
– Arthur Baum, geboren am 25. Juni 1889, lebte bereits seit 1914 in den USA und hatte 1925 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen.
– Friedrich Jakob Baum, geboren am 27. August 1890, starb ein Jahr nach seinem Vater, im Dezember 1932. Seiner Frau Erna Baum geb. Harf gelang 1938/39, von Dortmund aus mit den beiden Kindern Irmgard und Werner Baum die Flucht in die USA.
– Herbert Baum, geboren am 24. Juni 1893, wurde im Juli 1942 mit seinen Angehörigen von Dortmund aus deportiert und am 14. Oktober 1942 im KZ Theresienstadt ermordet.
– Elsa Baum, geboren am 19. Juni 1896, „verwitwete Strauss, verheiratete Kahn“, war 1939/40 die Flucht gelungen. Seit September 1940 lebte sie in New York, später in San Francisco, wo sie den Familiennamen Kent führte.
Rückerstattung erst 26 Jahre später
Ende Juli 1946 gingen die beiden Geschwister Arthur Baum und Elsa Kahn sowie die Schwägerin Erna Baum von den USA aus gegen die faktische Enteignung in Westfalen vor. Der „Verkauf“ sei unter Zwang geschehen und somit nicht gültig, argumentierten sie. Die Verkaufssumme habe nur einen Bruchteil des wahren Wertes des Gutes abgebildet, und selbst von dieser Summe sei nichts an sie gelangt.
Das Gerichtsverfahren erstreckte sich über Jahre und durchlief mehrere Instanzen: vom Landgericht Hagen über das Oberlandesgericht Hamm bis zum obersten Rückerstattungsgerichtshof in Herford. Erst im September 1964, fast 26 Jahre nach dem Zwangsverkauf, erhielten die Erben Philipp Baums ihr Recht und das Eigentum des Hofes zugesprochen.
Sie verkauften ihn wenige Monate später an einen unbeteiligten Landwirt aus Dortmund. Denn selbst auf dem Gut leben und Landwirtschaft betreiben – das wollte von den Erben Baum niemand mehr. Der Traum ihres Vaters vom „dauernden Familienbesitz“ war zerstört. Für immer.
Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.