"Bist du für ein Steckenpferd nicht schon ein bisschen zu alt?“, war Andrea Heiermeiers erster Gedanke, als ihre Tochter Elisa vor einem Jahr mit einem Steckenpferd nach Hause kam. Mittlerweile besitzt die heute 11-Jährige gleich drei solcher „Pferde“. Und ihre Mutter hat gelernt, dass sich das ganze nicht Steckenpferd- Reiten, sondern Hobby Horsing nennt.
Nur für Großstadtkinder? - von wegen!
Wer zum ersten Mal davon hört, dass Kinder im Alter von 4 bis 16 Jahren mit einem Besenstiel-Pferd über Hindernisse springen und Dressurreiten trainieren, denkt meist an Großstadtkinder, die noch nie ein echtes Pferd aus der Nähe gesehen haben. Doch weit gefehlt: Elisa beispielsweise ist beim Reitunterricht in der Westernreitschule „Blue Eyes“ von Sandra Rehkemper in Rheda-Wiedenbrück auf den Geschmack gekommen. Dort gibt es seit einem Jahr eine feste Hobby-Horse-Gruppe, die jeden Samstag trainiert.
Von Finnland bis Australien
Die Idee, aus dem Reiten mit Steckenpferden eine eigene Sportart zu entwickeln, stammt aus Finnland. Dort gehören der Hobby-Horse-Gemeinschaft mehr als 10 000 Reiterinnen und Reiter zwischen 4 und 18 Jahren an. Einerseits betrachten die Hobby Horser ihren Sport selbst mit einem Augenzwinkern. Andererseits nehmen sie ihre sportlichen Leistungen durchaus ernst. Im vergangenen Jahr stellte eine Reiterin in einem Sprungwettbewerb den Hindernisrekord von 1,40 m auf. Auch in anderen Ländern ist der Trendsport mittlerweile angekommen. Seit 2016 gibt es beispielsweise in Australien einen eigenen Hobby-Horse-Verband. Die Finnen haben eine eigene Website über ihren Sport ins Leben gerufen, die in acht Sprachen zur Verfügung steht. Interessierte finden dort unter anderem Videos von den verschiedenen Disziplinen – auf Finnisch mit deutschem Untertitel.
Anfangs stand Sandra Rehkemper den Pferden aus Holz und Stoff selbst skeptisch gegenüber. Ihre Freundin Ulla Evens aus Wadersloh fertigt jedoch seit einiger Zeit Hobby Horses an – anfangs für ihre Enkeltochter, dank steigender Nachfrage mit angemeldetem Kleingewerbe. Und da ihre kleinen Kundinnen auf der Suche nach einem Trainingsort waren, überredete Ulla Evens die befreundete Reitlehrerin, einen Hobby-Horse-Kurs ins Leben zu rufen. „Mittlerweile ist das hier ein echter Gassenhauer“, sagt Sandra Rehkemper schmunzelnd.
Die Hälfte der Gruppe sind Pferdemädels, die auch Unterricht auf einem echten Pferd nehmen – so wie Elisa. Die andere Hälfte reitet ausschließlich auf der Holzvariante.
Regelwerk aus dem Finnischen übersetzt
Sandra Rehkempers anfängliche Skepsis ist längst verflogen. Sie ist beeindruckt von der sportlichen Leistung der Mädchen, die im Training eine Stunde lang über den Platz traben und galoppieren. „Dabei lernen sie auch Grundlagen, die sie im herkömmlichen Reitunterricht umsetzen können“, hebt die Reitlehrerin hervor: Wie unterstütze ich mein Pferd mit den Zügeln? Was ist der Unterschied zwischen einem Zirkel und einer Volte? Wie reite ich ein Hindernis richtig an? All das lässt sich prima mit einem Hobby Horse üben.
Für die Haltung des Steckenpferdes gibt es klare Vorgaben: Die äußere Hand hält Stecken und Zügel, die innere Hand hält nur die Zügel. Beim Richtungswechsel wird umgefasst. So sieht es das offizielle Regelwerk der Finnen vor, die Vorreiter beim Hobby Horsing sind.
Hobby-Horsing-Turnier mit 60 Teilnehmern
Dass Sandra Rehkemper weiß, was in dem Regelwerk steht, hat sie ihrer Trainerkollegin Denise Högel von der TEAM Pony-Schule Kalletal zu verdanken. Die Trainerin spricht ein wenig Finnisch und hat Teile des Textes ins Deutsche übersetzt. Kein leichtes Unterfangen, da die Fachbegriffe aus dem Reitjargon meist nicht im Wörterbuch stehen. Doch mit der Übersetzung waren die Grundlagen geschaffen, die Hobby-Horse-Schüler gezielt zu trainieren.
„Im vergangenen Jahr haben wir hier bei uns in Kalletal ein Turnier mit 60 Teilnehmern aus ganz Deutschland ausgerichtet“, erzählt Denise Högel stolz. Eine Wiederholung konnte es aufgrund von Corona bislang leider nicht geben. Sie hofft, dass sich das bald ändern wird.
Online-Wettbewerbe als Alternative
In der Zwischenzeit nehmen ihre Schülerinnen und Schüler über Plattformen wie www.honedo-turniere.de oder www.deutsche-online-turniere.de an online-Wettbewerben teil. Für eine Teilnahme-Gebühr von etwa 10 € erhalten sie Aufgaben, die sie nachreiten und als Video aufnehmen – bei der Dressur auf einem 7 x 14 m großen Reitplatz mit Bahnbuchstaben. Eine leichte Dressur-Aufgabe beginnt beispielsweise so: „Im Arbeitstrab bei A aufmarschieren; bei X halten und grüßen; Anreiten im Mittelschritt; bei C rechte Hand; bei B Arbeitstrab; durch die Länge der Bahn wechseln (A–C) ...“ Auch Reitabzeichen lassen sich auf diese Weise ablegen.
Auch Sportvereine bieten Hobby Horsing an
Auch die „Deutsche Reiterliche Vereinigung“ ist längst auf die Sportart Hobby Horsing aufmerksam geworden und nimmt das Thema ernst. Im Dezember 2019 brachte der FN-Verlag bereits das Buch „Hobby Horsing – Mein Steckenpferd“ heraus (ISBN 978-3885428145, 19,95 €). Das Steckenpferd „Stecki“ erläutert den Kindern darin die Grundlagen des Reitens – sowohl mit einem Steckenpferd als auch mit einem echten Pferd. Autorin ist Annika Schalück vom Arbeitskreis „Kleine Kinder, Kleine Ponys“. Vor einigen Monaten hat der Verband alle Hobby-Horse-Trainer aus Deutschland zu einem Workshop eingeladen. Bislang kocht nämlich jeder noch sein eigenes Süppchen. Während sich Denise Högel in Kalletal beispielsweise an den finnischen Regeln orientiert, sieht es in anderen Regionen ganz anders aus. Hinzu kommt, dass nicht nur Reitlehrer das Hobby Horsing für ihre Schüler entdeckt haben, sondern auch Breitensportvereine Kurse anbieten. Ziel der Workshop-Teilnehmer ist es daher nun, bundesweit einheitliche Rahmenbedingungen für Turniere zu schaffen, ohne für die Veranstalter alles unnötig kompliziert zu machen.
Striegeln gehört dazu
Vielleicht wird die 11-Jährige Elisa Heiermeier demnächst also an einem Turnier in einer anderen Region Deutschlands teilnehmen. Bis dahin trainiert sie fleißig im Verein und bei sich im Garten – am liebsten mit ihrer Cousine Frida Hoffmann. Meistens bauen sie für sich einen Springparcours auf. Manchmal reiten sie aber auch einfach aus. Anschließend werden die Bürsten zum Striegeln ausgepackt. Elisa hat sich eigens für ihre drei Steckenpferde Shadow, Paola und Lucie eine Kardätsche gewünscht, mit der sie die Pferde striegelt. Denn auch das ist wie beim echten Reiten: Sich hingebungsvoll um das eigene Pferd zu kümmern, gehört einfach dazu.