Stolze 45 Haupterwerbs- und 13 Nebenerwerbsbetriebe in nur einem Dorf: nur wenige Gemeinden in Deutschland sind so landwirtschaftlich geprägt wie Dorsten-Lembeck. Im Stadtteil Rhade nebenan ist es ähnlich. Gleichzeitig liegt das Ruhrgebiet nur einen Steinwurf entfernt.
Der perfekte Ort also, um den sogenannten Städtern und anderen Interessierten Tiere, Trecker und die Tretmühlen der modernen Landwirtschaft näherzubringen.
Mit Helm und Kopfhörer
Das dachte sich auch Hubert Krampe. Der ortsansässige Milchviehhalter, der den Betrieb inzwischen an seinen Sohn übergeben hat, lieferte 2019 die Idee für die „Tour de Buur“ – eine von Landwirten geführte Radtour von Hof zu Hof (plattdeutsch: Buur = Bauer).
„Seitdem haben wir fast 150 Touren mit über 2800 Teilnehmern durchgeführt“, berichtet Regina Böckenhoff. Sie ist die Vorsitzende des WLV-Kreisverbandes Recklinghausen, der als Projektträger auftritt.
Über 30 Teilnehmende
Die Sauenhalterin aus Lembeck leiht mir heute ihr Fahrrad, damit ich an der ersten Tour de Buur des Jahres teilnehmen kann. Es ist Mitte März. Den Lenker in der Hand und einen Helm auf dem Kopf stehe ich gemeinsam mit 30 anderen Erwachsenen auf dem Parkplatz der Raiffeisen Hohe Mark Hamaland. „Heute ist der erste Tag, an dem die Vegetation atmet. Man sieht es an der Farbe des Getreides, dass sich etwas ändert“, begrüßt der 72-jährige Krampe die Truppe. Im Team mit Schweinemäster Markus Pasing leitet er heute die Tour.
Bevor es losgeht, verteilen die beiden an jeden Gast einen Empfänger mit Ohrhörer. Damit können wir als Teilnehmer jederzeit hören, was die Landwirte uns erzählen – selbst dann, wenn sich die Gruppe während der Fahrt mal 200 m auseinanderzieht. Der Clou des Audiosystems: Beide Führenden können gleichzeitig auf demselben Kanal sprechen.
Die Umgebung entdecken
„Hubert und ich spielen uns unterwegs thematisch die Bälle zu“, erklärt Markus Pasing. Einige Gesprächsinhalte ergeben sich aus den Fragen der Teilnehmer, andere aus dem, was wir gerade in der Landschaft sehen. Als wir beispielsweise an einem Gemüsefeld vorbeikommen, verrät Pasing, dass die sandigen Böden sich gut für den Anbau von Spinat eignen. Auch er selbst liefert das Blattgemüse an das Iglo-Werk in Reken. Kurz darauf passieren wir eine Weide mit Schafen und die Thematik „Wolf“ kommt zur Sprache.
Melktechnik-Vergleich
Nach etwa einer Stunde Fahrt in gemütlichem Tempo erreichen wir unser erstes Etappenziel: den Hof Bramert in Rhade. Betriebsleiter Heinz Bramert erwartet uns schon.
Er zeigt uns seine 75-kW-Biogasanlage, mit der er rein rechnerisch rund 200 Haushalte à vier Personen mit Strom versorgen kann.
Später geht es zum Futtermischwagen („Das ist unser Thermomix!“) und in den Kuhstall. Dort entdeckt eine Besucherin eine „Box aus Metallstangen“. „Ich wusste gar nicht, dass auch Kühe eine Pediküre brauchen!“, entfährt es ihr verblüfft, als Bramert aufklärt, dass es sich dabei um einen Klauenpflegestand handelt.
Insbesondere der Melkroboter, der erst vor zwei Jahren eingezogen ist, stößt auf das Interesse der Radler. Bramert nimmt sich die Zeit, alle Funktionen zu erklären. „Die gesammelten Daten liefern wichtige Hinweise. Dadurch erkennen wir oft schon einen Tag früher, wenn es einem Tier nicht gut geht.“ Auch lobt der Landwirt einen weiteren Vorteil: „Früher mussten wir bei der sonntäglichen Kaffeevisite um 16.30 Uhr aufstehen und nach Hause gehen zum Melken. Jetzt sind wir zeitlich viel flexibler.“
„Uns kennt man schon“
Dann schwingen wir uns erneut in die Sättel. Die meisten sitzen auf E-Bikes. „Die Strecken sind aber auch ohne Motor problemlos machbar“, versichert Markus Pasing. „Oft fahren auch Kinder mit. Wir passen die Geschwindigkeit entsprechend an.“
Wenn wir Autofahrern begegnen, bremsen und nicken die in der Regel freundlich. Eine Spaziergängerin mit Hund winkt uns zu. „Die meisten hier kennen uns schon“, kommentiert der Agrarscout.
Genau als es anfängt zu regnen, erreichen wir den Heimathof Lembeck. In der urigen Kulisse einer restaurierten Scheune trinken wir Kaffee und essen Streuselkuchen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass mehrere Ehepaare der Gruppe selbst auf dem Dorf leben und Kontakte zu Bauernfamilien haben. Andere kennen das Landleben noch von früher. Wieder andere haben gar keine Berührungspunkte zur aktiven Landwirtschaft.
Käsewürfel-Kostprobe
Letzte Station für heute ist ein Hof mit Rindviehhaltung, Melkkarussell und Milchtankstelle. Betriebsleiterin Hedwig Kerkmann stellt auch Joghurt, Quark, Frisch- und Schnittkäse selbst her.
Bevor wir die Käsewürfel probieren dürfen, fragt eine Teilnehmerin aus Bochum: „Warum werden die Kälber eigentlich so früh von ihren Müttern getrennt?“ „Standardfrage“, zwinkert die Landwirtin mir zu und erklärt, dass Kühe erst nach ein paar Tagen eine Bindung zu ihrem Neugeborenen aufbauen. „Wird das Kalb relativ zügig nach der Geburt von ihr getrennt, nimmt die Kuh das in der Regel recht gleichgültig hin, bleibt tiefenentspannt und marschiert einfach zum Trog.“
Als ich Agrarscout Pasing beim Abschied frage, was ihm in der Kommunikation mit Nicht-Landwirten wichtig ist, sagt er: „Wir sind keine Besserwisser und wollen auch nicht als solche auftreten. Was wir wollen, ist: Zeigen, dass es bei vielen Dingen eine zweite Seite der Medaille gibt, die in den Medien oft nicht erwähnt wird.“
Die erste Tour de Buur der Saison ist auch die erste Radtour des Jahres für mich. Satt, zufrieden und ähnlich tiefenentspannt wie die Kerkmannschen Kühe mache ich mich auf den Heimweg. Von dem Muskelkater am nächsten Tag weiß ich ja noch nichts.
„Tour de Buur“ auf einen Blick
Die „Tour de Buur“ ist eine geführte Radtour durch den Dorstener Norden. Jede Gruppe zählt 20 bis 30 Teilnehmer und wird von zwei Agrarscouts begleitet. Dabei handelt es sich um insgesamt 17 aktive Landwirte, Altenteiler und engagierte Dorfbewohner mit Agrar-Fachwissen. Über ein Audioguidesystem versorgen sie die Mitfahrer unterwegs mit spannenden Infos rund um die Landwirtschaft in der Region. Es gibt jeweils ein Oberthema. Klassiker sind zum Beispiel Milch, Käse oder Wurst. Etwas neuer im Programm sind Themen wie Wald und Jagd, Boden, Technik und Erneuerbare Energien. Passend zum Thema werden aus einem Pool von etwa 30 Betrieben zwei bis drei Höfe (alternativ Metzgerei, Imkerei …) ausgewählt und besucht. Die Betriebsleiter selbst stellen ihre Betriebe vor. Die Radler dürfen in die Ställe hineingehen und hofeigene Produkte probieren.
Die Touren finden von März bis Oktober statt, in der Regel samstags. Der Ausflug dauert vier bis fünf Stunden. Dabei wird eine Strecke von 20 bis 25 km zurückgelegt. Es ist aber auch möglich, für eine Gruppe ab zehn Personen eine individuelle „Wunschtour“ zu buchen.
Träger des Projektes ist der Landwirtschaftliche Kreisverband Recklinghausen. Die Kosten pro Teilnehmer betragen 20 bis 25 €. Kaffee und Kuchen sind inklusive. Wer eine „Ruhr.TopCard“ besitzt, kann die Tour zum halben Preis buchen. Dank dieser Kooperation erzielt die Tour de Buur inzwischen eine hohe Reichweite bei Familien bis in den Raum Düsseldorf hinein. Ansonsten läuft viel über Mund-zu-Mund-Propaganda. Eine Rolle spielt sicher auch der Instagram-Kanal.
Bis 2022 wurde das Projekt durch das Förderprogramm „Vital.NRW“ mit Geldspritzen unterstützt. Jetzt trägt es sich allein über die Teilnehmerbeiträge. Die Raiffeisen-Zentrale in Lembeck dient als Organisations- und Logistikzentrum der Tour de Buur. Raiffeisen-Mitarbeiterin Sonja Siegmund kümmert sich um die Anmeldungen und den Zahlungsverkehr. Die Agrarscouts arbeiten rein ehrenamtlich. Wer welche Tour begleitet, sprechen sie in einer WhatsApp-Gruppe ab.
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