"Eins, zwei, drei“ – und schon geht’s los. Detlef sitzt hinter mir. Wir beide treten beherzt in die Pedale. „Jetzt müssen wir, glaube ich, links abbiegen“, sage ich unsicher. Ich kenne weder die Gegend, noch weiß ich, ob ich alle Richtungswechsel ansagen soll. Detlef entgegnet selbstsicher: „Wir fahren erst mal hier ein paar Runden um den Block.“ Er kennt sich aus. Nicht nur, was die Straßen in diesem Stadtteil von Köln betrifft, sondern auch was das Tandemfahren angeht. Das Besondere an unserem Gespann: Detlef muss mir im wahrsten Sinne des Wortes blind vertrauen.
Pilot und Co-Pilot
Heute treffen sich 14 Menschen an der Garage in Köln-Longerich. Die eine Hälfte ist sehend, die andere Hälfte blind oder sehbehindert. Die Garage gehört dem Blindenverein Köln. Hier lagern die 13 Tandems der Weißen Speiche und warten auf ihre nächste Tour.
Weiße Speiche
Die Tandemgruppe ging 1998 aus dem Blindenverein Köln hervor. Heute zählt der Verein etwa 30 Mitglieder. Zu ihnen gehören sehende Piloten und sehbehinderte Co-Piloten. Im Vereinseigentum stehen 13 Tandems, mit denen sie von April bis Oktober zweimal im Monat samstags oder sonntags gemeinsame Radtouren unternehmen. Teils haben sie ein kulturelles, teils ein kulinarisches Ziel. Einmal im Jahr findet eine dreitägige Wochenendtour in Deutschland oder den Niederlanden statt.
Nach freundlichem Hallo und kurzem Einstellen der Sättel auf die passende Höhe geht es los. Vor uns liegen etwa 45 km entlang des Rheins, inklusive zweimaligem Übersetzen mit der Fähre. „Sonntags fahren wir immer etwas längere Touren“, sagt Ellen, Detlefs Frau, die beim Fahrradfahren häufig die Pilotin ihres Mannes ist. Eigentlich gibt es keine festen Zuordnungen bei Pilot und Co-Pilot. Rosi erzählt mir aber, dass es schon „Lieblingskombinationen“ gibt. „Schließlich müssen wir Blinden voll und ganz darauf vertrauen, dass unsere Piloten nicht über eine rote Ampel mit uns fahren“, ergänzt sie fast ein wenig entschuldigend. Heute sitzt sie hinter Michael. „Bei ihm kann ich fast schon über die Pedale spüren, was als nächstes kommt“, erzählt sie weiter. Das ist wichtig, denn beim Tandemfahren geht alles im Gleichtritt.
Zusammen gelingt’s
Jedes Duo hat seine ganz eigenen Gesprächsthemen. Die einen reden über Esskastanien, die anderen über die neue Rheinbrücke und wieder andere unterhalten sich über den letzten Urlaub.
Die Tatsache, dass der oder die Hintensitzende nichts oder nur Umrisse sieht, fällt nur bei Hindernissen auf. Beim Drängelgitter steigen die meisten Paare ab und schieben. Dabei hält sich der Co-Pilot einfach am Sattel fest und gelangt so sicher durch die metallenen Begrenzungsgitter.
Starten will geübt sein
Bei den einen hört man ein „Und ab“, bei den anderen das mir vertraute „Eins, zwei und drei“. Jedes Duo hat seine ganz eigene Technik beim Losfahren. Jalea ist mit ihren 22 Jahren die Jüngste in der Gruppe. Sie und ihr heutiger Pilot Hermann haben eine ganz eigene Technik. Sie darf bereits bequem Platz nehmen und tritt auf Kommando ihres Piloten fleißig mit in die Pedale.
„Mir macht das Radfahren einfach Freude“, erzählt Hermann, der auch sonst in der Freizeit viel mit dem Rad unterwegs ist. Bei Bernhard, einem langjährigen Piloten der Gruppe, gab die Liebe zum Tandemfahren den Ausschlag. Heute sitzt Marie-Theres hinter ihm. Je nach Lichtverhältnissen kann sie noch 2 bis 5 % sehen. „Ich mag die Gemeinschaft und die Gespräche, die während unserer Touren entstehen“, sagt sie.
Pommes mit der Gabel
Dass das gesellige Miteinander ein wichtiger Teil ist, wird spätestens bei der Einkehr am Mittag deutlich. Die Gespräche verstummen nur kurz, als die Speisekarten auf dem Tisch liegen und es darum geht, ein passendes Gericht auszuwählen. Während Erika mit ihrer Lupe die Schrift entziffert, lesen andere Sehende die Karte laut vor.
„Links liegt dein Besteck, falls du mit der Gabel essen willst“, sagt Michael zu Rosi. „Bind du dir mal die Augen zu und iss Pommes mit der Gabel“, scherzt Rosi zurück und isst ihre Pommes weiter mit den Fingern.
Kaum ist die Pause vorbei, sitzen wir wieder auf den Rädern. Was mir ein paar Schweißperlen auf die Stirn zaubert, ist für die oftmals erfahrenen Tandem-Piloten keine große Sache: die Fußgänger entlang des Rheins sowie die zahlreichen Baustellen mit ihren Absperrungen und Schildern. Souverän lenken die Fahrer ihre gut zweieinhalb Meter langen Tandems an den Schikanen vorbei.
Erika und ihr Mann sind schon länger bei der Weißen Speiche dabei. Während sie noch etwas sehen kann, ist ihr Mann vollblind. Sie kommen aus Troisdorf und müssen, um zum Treffpunkt zu kommen, anderthalb Stunden mit Bus und Bahn fahren. „Wir haben selbst drei Tandems zu Hause, finden aber niemanden, der mit uns fahren will“, erzählt sie. Was sie nicht will, das sind Touren aus Mitleid: „Schließlich kann man doch einfach eine gute Zeit zusammen haben und eine Runde Rad fahren.“ Mit Freunden macht man schließlich häufiger mal Radtouren – nur mit dem Unterschied, dass dabei keiner blind vertrauen muss.
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