Fröhlich klirren die Gläser auf dem Geburtstag der sechsjährigen Julia. Eltern, Tanten und Onkels freuen sich mit dem Sprössling und stoßen auf ihn an. Alkohol ist gesellschaftsfähig und gehört für viele seit Kindesbeinen irgendwie dazu. Mitten unter den Feiernden ist Bernd. Wer nicht genauer hinschaut, der erkennt zwischen ihm und den anderen Anwesenden keinen Unterschied. Er feiert, lacht ausgelassen und stößt mit an. Doch wirft man einen Blick in sein Glas, fällt auf: Bernd trinkt keinen Alkohol. Bietet ihm jemand ein Bier an, so winkt er freundlich, aber bestimmt ab, blickt demjenigen geradewegs in die Augen und sagt: „Ich trinke nicht mehr.“ Das kleine Wörtchen „mehr“ macht im Leben des 39-Jährigen einen riesigen Unterschied. Über acht Jahre hatte er seinen Alkoholkonsum stetig gesteigert. Am Ende trank er jeden Abend nach getaner Arbeit eine halbe Kiste Bier – oder auch mehr.
Heute kann er stolz von sich behaupten: „Ich bin trockener Alkoholiker.“ Der Vater zweier Töchter macht ganz bewusst keinen Hehl aus seiner früheren Alkoholerkrankung.
Freiwilliges „Knastleben“
Vor zwei Jahren entschied sich Bernd für den Entzug. Zehn Tage ging er dazu stationär in eine Klinik. „In den ersten drei Tagen war ich quasi auf dem Flur eingesperrt“, beschreibt der 39-Jährige seine Erinnerung. Im Nachhinein betrachtet ist er dankbar für dieses Gefühl des „Knastlebens“, wie er es selbst nennt. „Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, warum ich trinke“, beschreibt er seinen ersten Schritt, weg vom Alkohol. Eine klare Antwort auf die Frage des „Warums“ hat er bis heute nicht gefunden. Es gab kein einschneidendes Erlebnis, das ihn in die Arme des benebelnden Suchtmittels trieb. Rückblickend betrachtet, waren es eher viele kleine Dinge, die ihm Stress bereiteten und dazu führten, dass die Feierabendbiere zahlreicher wurden.
Fotos geben den Anstoß
Es war im Herbst 2018, als Bernd sich eingestand, ein Problem zu haben. „Ich wusste schon länger, dass da etwas nicht richtig ist, aber ich wusste nicht, wie ich es angehen sollte“, sagt er heute. Einen wichtigen Beitrag, sich aus dem Teufelskreis des Alkohols zu befreien, lieferte seine Frau. Die 37-Jährige präsentierte ihm Fotos, die sie heimlich von seinem Kofferraum gemacht hatte. Genauer gesagt hatte sie über Wochen die darin stehenden mal vollen und mal leeren Bierkästen fotografiert. „Ich hatte immer eine Kiste im Auto“, erinnert sich Bernd an die „nasse“ Phase seines Lebens. Die Bilder führten ihm wenig schmeichelhaft seinen täglichen Bierkonsum vor Augen. Ihm wurde klar, dass er etwas ändern musste. Er ging zum Hausarzt, bei dem seine Schwester als Arzthelferin arbeitet. Nach den medizinischen Untersuchungen wusste sie zwar Bescheid, doch war sie an die Schweigepflicht gebunden. Dem Rest der Familie erzählt Bernd zunächst nichts.
(K)ein trockenes Fest
Kurz vor Weihnachten ging Bernd in die Klinik. Dort war er mit vielen anderen Patienten zusammen, die oftmals nicht aus eigener Motivation dort waren. Ihre Lebenspartner oder Arbeitgeber hatten sie geschickt. Wieder andere bangten um ihren Führerschein und wollten durch die Teilnahme ihren guten Willen vor Gericht bezeugen. „Einige wollten einfach nur ihren Konsum reduzieren“, stellte Bernd fest. Er dagegen hatte ein klares Ziel: die vollständige Abstinenz. Bernd hatte Glück und die Entzugserscheinungen blieben aus.
Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest kehrte er nach Hause zu seiner Frau und den beiden Töchtern zurück. Doch er spürte die Unsicherheit auf allen Seiten. Seine Frau und auch seine Geschwister, die mittlerweile Bescheid wussten, zögerten, wie sie sich an den Feiertagen verhalten sollten. Durften sie weiter in seiner Anwesenheit Alkohol trinken? Sollten sie den Nachtisch ohne den im Rezept erwähnten Hochprozentigen zubereiten? Und auch Bernd war unsicher. Denn er wollte nicht, dass seine Mitmenschen sich wegen seiner Krankheit veränderten. „Schließlich ist es meine Krankheit, nicht ihre“, fasst er seine Sicht auf die Dinge zusammen. Dennoch gab es ihm Sicherheit, seine erste Feier, auf der auch Alkohol ausgeschenkt wurde, im gewohnten Umfeld zu erleben. Es wurde ein harmonisches Weihnachtsfest – für die anderen mit, für Bernd ohne Alkohol.
Keiner fragt nach
Nach den Feiertagen kam der Alltag und mit ihm die Frage, wie Bernds Freunde, Kollegen und Vereinskameraden mit seiner neuen Abstinenz umgehen würden. „Ich hatte Angst vor ihren Reaktionen“, gibt der 39-Jährige offen zu. Doch er wagte auch diesen Schritt und ging zur Sitzung des Schützenvereins. Wie vielerorts üblich, stellte man auch hier, im 2500-Seelen-Dorf im Münsterland, direkt zu Anfang der Veranstaltung ein Bier vor ihn. Bernd reagierte prompt, lehnte dankend ab und erklärte kurz den Hintergrund. Damit war das Thema erledigt. Mittlerweile ist es normal, dass in den Runden, in denen sonst pauschal Bier bestellt wurde, Bier und „das, was Bernd will“ bestellt wird. Obwohl der Familienvater seit der Therapie nie einen Hehl aus seiner Alkoholerkrankung gemacht hat, haben nur wenige seiner Freunde und Bekannten genauer nachgefragt. Lediglich wenn sie Alkohol getrunken haben und die Zunge lockerer sitzt, dann passiert es hin und wieder, dass ihm jemand anerkennend auf die Schulter klopft. Aber nach Details erkundigt sich niemand.
Auch Bernd fragt nicht nach: „Bei ein paar Leuten in meinem Bekanntenkreis vermute ich, dass sie ebenfalls ein Problem mit übermäßigem Alkoholkonsum haben, aber ich würde sie nie darauf ansprechen.“ Jedes Mal, wenn man ihn selbst damit konfrontierte, rechtfertigte er sein Trinkverhalten durch den Verweis auf andere, die ebenfalls Alkohol tranken. „Ich habe dann immer ein paar Wochen auf Bier verzichtet, um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht abhängig bin.“ Doch auf diese trockenen Abschnitte folgte stets die Rückkehr zum gewohnten Verhalten.
Alkohol in der Gesellschaft
Fragt man Bernd heute nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol, sagt er klipp und klar: „Alkohol ist gefährlich, weil er sozial akzeptiert ist. Man muss sich rechtfertigen, wenn man keinen trinkt – das gibt es doch sonst bei keiner Droge.“ Ebenso prangert er an, dass Werbung für Alkohol noch immer erlaubt und er auch schon für junge Leute leicht zugänglich ist. All das erleichtert aus seiner Sicht den Einstieg in die Alkoholkrankheit, aus der er noch einen glimpflichen Ausstieg gefunden hat. Anders als bei vielen anderen Abhängigen hat er nur die Summe von 15 000 € verloren, nicht aber seine Familie, Freunde oder Arbeitsstelle.
Das Gespräch mit seinen Töchtern über seine frühere Abhängigkeit steht noch aus. Er hofft, dass die beiden nicht viel von seinen Exzessen mitbekommen haben, zumal er erst nach dem Abendessen richtig anfing zu trinken. Außerdem wurde er weder laut noch ausfallend und verließ morgens das Haus, bevor die Grundschülerinnen aufstanden. Trotz seiner Vorgeschichte will Bernd den beiden später den Konsum von Alkohol nicht verbieten. Sie sollen ebenso frei über ihr Leben entscheiden dürfen, wie er es getan hat, ob mit oder ohne Alkohol. Aber Bernd hat für sich erkannt, dass sein Leben ohne Alkohol deutlich lebenswerter ist.
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