Im Mittelalter war der Stadtschreiber einer der wichtigsten Menschen im Ort. Inzwischen gibt es den Titel wieder: Für einen festen Zeitraum beziehen Autoren Quartier und verarbeiten ihre Eindrücke literarisch, wie gerade Justine Bauer im Sauerland.
Die Kulturregionen in NRW, es gibt insgesamt zehn, haben in diesem Jahr zum zweiten Mal Regionsschreiber gesucht. Von Anfang März bis Ende Juni waren zehn Literaten zu Gast. Neben kostenloser Unterkunft erhielten sie ein monatliches Honorar in Höhe von 1800 €, finanziert in erster Linie über Fördermittel des Landes. Zahlreiche Schriftsteller hatten sich mit ihren Ideen beworben.
Über Bäuerinnen
Justine Bauer wollte Geschichten über Bäuerinnen schreiben, als sie Mitte März nach Sundern-Amecke kam. In Köln studiert sie Spielfilmregie und Drehbuch. Nebenher arbeitet sie an ihrem ersten Roman. Ihre Wurzeln liegen aber auf dem Land. Mit drei jüngeren Geschwistern ist sie auf einem Hof in Hohenlohe im Norden von Baden-Württemberg aufgewachsen. Die Eltern züchten im Nebenerwerb Angusrinder und Strauße. Mit ihren Lamas bieten sie Wanderungen durch das Jagsttal an.
Tragisch und komisch
In ihren Texten für „Stadt.Land.Text“, so heißt das Regionsschreiber-Projekt, verarbeitete sie, was sie im Sauerland erlebt hat – egal ob zufällig oder geplant. Oft klingen ihre Texte poetisch: „Im Sauerland wachsen Wiesen und Wälder manchmal wie Tapeten hinter den Menschen nach oben. Das liegt an den Hügeln, die sich immer wieder dem Horizont in den Weg stellen.“ Mitunter schlägt Justine Bauer aber auch nachdenkliche Töne an, wie beim Text über die „Samenhändlerin“, der nach dem Gespräch mit einer Bäuerin entstanden ist: „In einem Koffer trägt sie bestes Bullensperma bei sich, lässt es nach erfolgreicher Beratung gleich vor Ort und bald darauf tragen ganze Kuhherden Kinder unbekannter Väter in ihren Bäuchen über Wiesen und Spaltenböden spazieren. Manche der Kälber bleiben bei ihren Müttern, manche nicht. Gerade jetzt, heute an diesem Tag, da sind die meisten Kälber weniger wert als ein Kanarienvogel.“
Provokation erwünscht
Justine Bauer schreibt keine Texte, die für die Tourismuswerbung taugen. „Ich will nicht, dass die Leute nur lesen, was Leute oft gelesen haben.“ Sie versucht, Stereotype aufzubrechen und provoziert auch in ihren Texten gerne. Das trifft Land und Stadt. Beide betrachtet sie kritisch: „Mehr Umweltschutz, mehr Wölfe und weniger Flächenverbrauch lassen sich aus der Stadt gut fordern“, sagt sie. „Ich weiß aber auch, wie es ist, wenn jemand auf den Hof kommt und keine Ahnung hat.“
Gleichzeitig irritiert sie der aggressive Ton, der jenseits der Metropolen mitunter Richtung Stadt und Politik angeschlagen werde. Zwei Dinge helfen aus ihrer Sicht: miteinander reden und ab und an aus der Stadt raus aufs Land fahren.
Zwischen Aachen und OWL
Die Herangehensweise der Autoren, die zwischen Aachen und Detmold Landluft schnupperten, war sehr unterschiedlich. Im Bergischen Land protokollierte Tilmann Strasser Monologe vom Nachbarn oder der Friseurin, in Ostwestfalen-Lippe war Yannic Han Biao Federer auf den Spuren von Annette von Droste-Hülshoff unterwegs und am Niederrhein erprobte die Städterin Carla Kaspari erstmals das Landleben.
Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Autorinnen und Autoren im Internet. Justine Bauer will auch im Juli noch einige Texte online stellen. Im Herbst soll ein Buch mit den Beiträgen erscheinen.
www.stadt-land-text.de