Jüdisches Landleben: Antisemitismus

Schorlemer-Alst, die Landjuden und die "Verrohung des Tones"

Der „Westfälische Bauernkönig“ und Zentrumspolitiker Burghard von Schorlemer-Alst teilte viele antijüdische Ressentiments. 1893 aber warnte er vor dem damals neuen, radikalen Rasseantisemitismus.

Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst (1825 Schloss Herringhausen bei Lippstadt - 1895 Haus Alst bei Horstmar) stieß in den 1860er Jahren die Gründung des ersten Bauernvereins an, des ersten staatsunabhängigen Interessenverbandes in Deutschland. Dieser Akt machte ihn weit über Westfalen hinaus bekannt. Schorlemer-Alst war einerseits altkonservativ bis ins Mark, einen organischen Ständestaat nach mittelalterlichem Vorbild anstrebend – andererseits schlug er sich auf die Seite der Bergleute im Ruhrrevier, attackierte mit flammenden Reden im Reichstag ihre „Ausbeutung durch das Kapital“ und suchte die schlimmsten Missstände unter Tage zu beseitigen.

Weithin vergessen ist dagegen, dass Schorlemer, Abgeordneter der katholischen Zentrums-Partei im Reichstag und im preußischen Herrenhaus, auch durch eine antijüdische Haltung auffiel. Sie trat nicht häufig offen zutage, trug aber zu seinem heftigen Konflikt mit Ludwig Windhorst (1812-1891) bei, dem Vorsitzenden der Zentrumspartei und wortmächtigen Gegenspieler Bismarcks.

"Lassen Sie die Rothschild sich gegenseitig bewuchern"

Am 31. März 1879 beispielsweise sagte Schorlemer im Reichstag: „Lassen Sie dann die Rothschild und wie sie heißen, sich gegenseitig bewuchern, das kann uns kalt lassen, das geht uns nichts an.“

Deutlicher wurde Schorlemer am 22. März 1893 im preußischen Herrenhaus, als er behauptete: „Ich glaube, ich brauche nicht erst zu versichern, dass ich namentlich mein ganzes Leben lang die vielen Ausschreitungen, die die Juden sich im geschäftlichen Verkehr, im Handel und sonst zu Schulden kommen lassen, aufs Energischste bekämpft habe“, um dann, rhetorisch einschränkend, fortzufahren: „...wobei ich allerdings leider auch bestätigen muss, dass vielfach von Christen dieselben abscheulichen Geschäfte betrieben werden wie von den Juden – das muss ich der Gerechtigkeit halber aussprechen.“

Mängel der Kreditversorgung auf dem Land
Im ländlichen Westfalen des 19. Jahrhunderts wurde der Geldhandel und das Handelsgewerbe zu einem ansehnlichen Anteil von Juden betrieben. Das hatte historische Gründe, bot aber den Nährboden für die Gleichsetzung von Juden mit angeblichem „Schacher“ und „Wucher“ – zwei emotionsgeladenen, unscharfen Kampfbegriffen, die in kaum einer antijüdischen Rede, kaum einem antisemitischen Flugblatt der Zeit fehlte.
Verschwindend gering war die Zahl der Fälle, die scheinbar den Vorwurf bestätigen konnten. Sie spiegeln freilich allgemeine Mängel des überholten, personalgebundenen und unorganisierten Kreditsystems auf dem Lande; diese Mängel wurden im 19. Jahrhundert „selten bei der eigenen Unfähigkeit oder bei einzelnen Schuldigen gesucht", wie die Historikerin Maria Blömer urteilt, "sondern ganz unreflektiert bei allen handelstreibenden Juden“. Derart zugespitzt und pauschal verwendet, wurde der Begriff des Geldwuchers der jüdischen Minderheit zugeschreiben.

Schorlemers Haltung wider die Juden speiste sich aus christlich-religiösen sowie aus wirtschaftlichen Motiven. Die jüdische Minderheit betrachtete er letztlich als Sinnbild der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die der konservative Landadlige von Grund auf ablehnte.

Seit den 1870er-Jahren war in Deutschland eine neue, gefährliche Bewegung entstanden: der neue, „moderne“ Antisemitismus. Er gründete auf dem Vorrat der jahrhundertelang tradierten antijüdischen Vorurteile, berief sich aber, das war das Neue, auf biologistisch-völkische, rasseideologische Vorstellungen. Im Schatten der „Gründerkrise“ der Wirtschaft hatte diese Bewegung erheblichen Auftrieb erhalten, quer durch alle Bevölkerungsschichten des Reiches.


Der Antisemit Otto Böckel bei einer politischen Versammlung, um 1887 - das Foto stammt aus einem NS-Propagandabuch von 1934. (Bildquelle: Landesgeschichtl. Informationssystem Hessen)

"Hinter dem Pfluge sieht man sie nicht"
Der Volksliedforscher und Bibliothekar Otto Böckel (1859-1923), einer der Protagonisten der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“, schrieb 1889:
"Die Landjuden sind fast alle Handelsleute. Hinter dem Pfluge sieht man sie nicht. Warum nun nicht? Einfach, weil dem Juden der Ackerbau zu sauer und zu wenig einträglich ist. Der Jude will nun einmal nicht arbeiten, wie es der deutsche Bauer thut.(...) Versuche, Juden an den Ackerbau zu gewöhnen,, sind meist vollständig gescheitert. Der Landjude zieht es vor, statt von seiner Hände Arbeit mühsam zu leben, von dem Ertrage des Bauern, den dieser im Schoße des Angesichtes sich erarbeitet, mitzuleben. Das ist viel bequemer und müheloser. Darin liegt aber gerade die Gefahr für unser deutsches Volk, dass der ehrliche, arbeitende Bauernstand fortwährend von einer Rasse fremder Schacherer ausgebeutet und auf Schritt und Tritt beobachtet wird. Der deutsche Bauer ist ehrlich und arbeitsam, der Jude verschmitzt und faul.“
In diesen stereotypen Anwürfen spiegeln sich ältere, teils Jahrhunderte alte Vorurteile, die im Sinne der völkischen Rasseideologie zugespitzt sind. Böckel fand damit zeitweise in der ländlichen Bevölkerung Nordhessens Anklang, ehe sein Stern sank – wegen mehrerer unehelicher Affären, einer Reihe von Alimentenprozessen sowie Veruntreuung von Geldern des Bauernvereins. Seine Worte aber blieben. Die völkische Propaganda der NSDAP konnte sie später nahtlos aufgreifen.

Schorlemer-Alst: Die Rechte wieder entziehen?

Die Antisemiten-Bewegungen jener Jahre um 1890 wandten sich mit allen propagandistischen Mitteln gegen die erfolgte rechtliche Gleichstellung und Emanzipation der Juden; sie müsse aufgehoben werden, lautet eine ihrer zentralen Forderungen. Diese Forderung teilte Schorlemer nicht, auch wenn er die liberalen preußischen Gesetze zur Judenemanzipation ablehnte. Seine Haltung, die sich letztlich am geltenden Recht orientierte, verdeutlichte er im Preußischen Herrenhaus 1893 mit diesen Worten:

„Es wird doch nicht möglich sein, wenn man auch die Emancipation der Juden als einen Fehler betrachtet, nachdem man einmal den Juden die staatsbürgerlichen Rechte gegeben hat, sie ihnen wieder zu entziehen. Ich glaube, jeder darauf gerichtete Versuch wird ein Unrecht, wird vergeblich sein.“ Es könne ja angenehmer sein, wenn man die Juden im Staate nicht hätte, sinnierte Schorlemer im Herrenhaus und fügte die rhetorische Frage hinzu: „Aber wie wollen Sie dieselben denn hinausbringen?“ Und weiter:

„Jeder dahin zielende Versuch wird vergeblich sein, und ich bin deshalb auch gerade der Meinung, dass die antisemitische Bewegung eine so wenig praktisch wirksame sein wird. Die ausschreitende Art, die sie hat, macht sie mir schon ganz unsympathisch.“

Wer und was ist in Gefahr?

In Schorlemers Ausführungen spielten die Gefahren für Leib und Leben, die für die Juden mit dem modernen Antisemitismus heraufzogen, kaum eine Rolle. Umso stärker indes beschwor Schorlemer die Gefahren, die die „ausschreitende Art“ dieser Bewegung vor allem für Monarchie, Staat und Gesellschaft darstellte:

„Was ich bisher von der antisemitischen Bewegung gesehen habe, ist nur eine ungeheure Aufwühlung der Leidenschaften, eine große Verrohung des Tones, der ja auch jetzt schon im Parlament – in einem nahe liegenden Hause – sich gezeigt hat, und wenn einmal ein solcher abschüssiger Weg betreten ist, so wird man darin noch weiter kommen.“

Die Bewegung verbreite dumpfe Unzufriedenheit und böse Stimmung, und sie untergrabe letztlich die "Autorität des Staates und der Krone", so Schorlemer. Er schloss seine Rede mit einer – aus der Rückschau fast prophetisch wirkenden – düsteren Warnung:

„Es ist in der Tat schon an dumpfer Unzufriedenheit und böser Stimmung so viel vorhanden, dass man vor allen Dingen dem entgegenarbeiten sollte, dass noch mehr Brennstoff sich ansammelt. Denn wir können nicht wissen, zu welcher Explosion das führen wird.“

„Die religiöse Ueberzeugung Andersdenkender zu achten“
Die mehrschichtige Haltung Schorlemers gegenüber der jüdischen Minderheit im Land spiegelt sich auch in einem Beitrag, der 1895 in der Zeitschrift „Der Israelit – Centralorgan für das orthodoxe Judenthum“ erschienen ist. Wenige Tage nach dem Tod von Burghard von Schorlemer-Alst am 17. März 1895 hatte sich in der Redaktion ein Leserbriefschreiber aus „Bork (Westphalen)“ gemeldet. Er teilte mit, dass Schorlemer zum Bau der 1887 eingeweihten Synagoge in Rheine „durch persönliche Beisteuer und Sammlung das nette Sümmchen von 2000 M. beitragen“ habe.
Der Leserbriefschreiber, dessen Name nicht genannt wird, habe daraufhin mit Schorlemer korrespondiert und ihn gebeten, seinen Einfluss „zum Schutze unserer Confession durch Einwirkung zunächst auf die intolerante Presse“ geltend zu machen. In seiner Antwort vom 20. Mai 1891 bescheinigte der westfälische Landadlige einerseits dem jüdischen Briefautor „die Macht Ihrer nationalen Verbindungen“, bekannte aber andererseits, mit Verweis auf seine eigenen Erfahrungen im Kulturkampf:
„Was uns heilig und ehrwürdig war, wie wurde es und wird es noch heute in den Koth gezogen. Ich habe daraus umso mehr gelernt, die religiöse Ueberzeugung Andersdenkender zu achten und darf sagen, daß ich dieselbe niemals in Wort und Schrift, auch nicht in Gedanken verletzt habe. Daß Sie selbst die gleiche Gesinnung hegen, sagt mir Ihr Brief und (ich) begrüße das mit Freuden.“

Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.