Wochenblatt: Herr Professor Dr. Walz, Ruhestand ist kein XXL-Urlaub. Die Wahrheit sieht nämlich anders aus?
Walz: Nur wer sich auf seinen Ruhestand vorbereitet, kann die Vorzüge genießen und sorgenfrei alt werden. Wer das nicht tut, bei dem kann die lang ersehnte Rente in Langeweile, Depressionen und dadurch auch in einen frühen Tod umschlagen.
Wochenblatt: Auf der einen Seite sorgenfreies Leben, auf der anderen ein früher Tod? Anders gefragt, welche Gewinne und Verluste stehen sich beim Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand gegenüber?
Walz: Auf der Gewinnseite haben wir die Posten Freiheit und Freizeit. Wir sind entpflichtet, tragen keine Verantwortung mehr, etwa für den Betrieb, müssen nicht mehr mit dem Wecker aufstehen und nicht so viele Rollen erfüllen. Demgegenüber stehen die Verluste: Sinnverlust, aber auch der Macht- und Einflussverlust. Man ist aus der Sicht vieler Bezugspersonen nicht mehr so wichtig.
Wochenblatt: In der Tat hört man immer wieder, dass irgendwer von irgendwem weiß, der nach dem Arbeitsleben in ein emotionales Loch gefallen ist.
Walz: Die unterschiedlichen Geschichten, die wir alle kennen – von dem einen, der glücklich ist, und von dem anderen, der unglücklich ist, können wir auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Sinn. Menschen sind nämlich Sinnsucher – ihr ganzes Leben lang.
Wochenblatt: Sinnsucher – das hört sich jetzt aber wirklich sehr philosophisch an ...
Walz: „Sinnsuche“ ist nun mal der zentrale Begriff. Der hat aber weniger mit Philosophie als mit messbarer Lebensqualität und Zufriedenheit zu tun. Daher ist es wichtig, nicht bis zum letzten Tag zu ackern, sondern den Ruhestand individuell vorzubereiten und sich Hobbys und Tätigkeiten zu suchen, die Sinn stiften. Glückliche Rentner sind diejenigen, die ihrem Leben einen Sinn geben. Sei es durch ihre Enkel, als Kassenwart im Sportverein oder als Rosenzüchter. Es gibt keinen einheitlichen oder objektiven Sinn. Jeder muss seinen Sinn selbst finden – und vor dem Eintritt in den Ruhestand sollten wir diesen Aspekt neu prüfen. Das ist eine ganz tolle Chance!
Wochenblatt: Was machen „unglückliche“ Rentner falsch?
Walz: Solange jemand einen Job – eine Aufgabe – hat, wird er gebraucht. Die Arbeit erfüllt ihn und stiftet Sinn. Wer jedoch alle Sinnquellen nur aus der Arbeit bezog, ist sehr gefährdet, wenn er in den Ruhestand tritt. Sobald diese „Schaffer“ (workaholics) nicht mehr arbeiten, fehlt ihnen der Sinn, und sie schlittern in eine regelrechte „Sinnkrise“ – Langeweile und Depressionen inklusive. Es sei denn, sie schaffen es, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Oft ist zu beobachten, dass Menschen, die kurz nach der Rente sterben, in einer tiefen Sinnkrise steckten.
Wochenblatt: Wen trifft eine Sinnkrise am ehesten?
Walz: Häufig trifft sie Menschen in Führungspositionen – Männer eher als Frauen. Denn durch die Arbeit – als Direktor, Chef, Manager – erhalten sie Anerkennung von anderen Menschen. Doch schon kurz nach der Abschiedsfeier und den ersten Wochen im Ruhestand fallen sie in das gefürchtete schwarze Loch. Dann ist nämlich das Urlaubsgefühl mitsamt dem Gefühl „wichtig zu sein“ weg. Es gibt nichts, was ihren Tag ausfüllt und ihm Struktur und Sinn gibt. Keine Termine, keine Telefonate, keine Besprechungen, keine Dienstmails, keine Aufträge – keine Anerkennung. Frauen sitzen in der Hinsicht fester im Sattel, weil sie meistens in mehreren Rollen unterwegs sind: Beruf, Kinder, Eltern, Schwiegereltern, Enkel, Haushalt, soziale Kontakte. Aber solche Dinge kann man vorhersehen. Die Position wird irgendwann weg sein, aber das Leben geht weiter. Und zwar hoffentlich noch lange und mit vielen Sinnquellen.
Wochenblatt: Als Betriebsinhaber oder Chef die Bedeutungshoheit zu verlieren und zum alten Eisen zu gehören, hört sich wenig verlockend an. Wie stark verändert sich die eigene Identität durch die Rente? Wie erhält man sich seine Persönlichkeit?
Walz: Ein Betriebsleiter, der sich nur über seine Position Anerkennung holt, ist das beste Beispiel für einen drohenden Sinnverlust. Wer jedoch als Chef menschlich und sozial auftritt, dem wird man später nicht aus dem Weg gehen, sondern ihm mit Respekt begegnen und stets ein paar Worte mit ihm reden.
Ob und wie stark sich die Identität verändert, hängt auch davon ab, in welchen Sparten man außerhalb des Berufs unterwegs ist. Wer sich nicht über Druck und Macht identifiziert, sondern seinem Leben neben dem Beruf einen Sinn durch Hobbys, Ehrenamt und Familie gibt, wird trotz Rente nicht auf das Abstellgleis gestellt, sondern in den Augen der ehemaligen (Familien)-Mitarbeiter derselbe bleiben.
Anders ist es mit der Persönlichkeit. Die darf sich sehr wohl verändern, schließlich hat man im Laufe seines Lebens immer dazugelernt und sich weiterentwickelt. Wer in den Ruhestand geht, sollte sich fragen: Was kann ich gut? Die guten Eigenschaften sollte er ausbauen. Gerade ältere Menschen werden für ihr Wissen, ihre Lebenserfahrung und ihre Gelassenheit geschätzt.
Wochenblatt: Und wie sieht es mit der Option „nichts tun, abwarten und alles entspannt auf sich zukommen lassen“ aus? Die Rente kommt doch sowieso.
Walz: Das kann gutgehen, wenn viele Sinnquellen ohnehin außerhalb der Arbeit liegen. Es kann aber auch schiefgehen, Stichwort: Sinnkrise. Die Option, nichts zu tun und von hundert auf null in den Ruhestand zu gehen, kann ich nicht empfehlen. Der Ruhestand fällt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern ist planbar.
Wochenblatt: Sie sagen, dass Bilder helfen, sich auf den Ruhestand vorzubereiten. Welche Bilder meinen Sie?
Walz: Die Rede ist von „inneren Bildern“. Jeder Mensch sollte sich irgendwann – am besten nicht erst kurz vor dem Eintritt, sondern einige Jahre vor dem Ruhestand – ein Bild davon machen, wie er als Rentner leben möchte. Denn Menschen folgen ihren „inneren Bildern“. Allerdings sollten die Gedanken nicht zu sehr um den späteren Ruhestand kreisen. Denn wer zu viel über die Rente nachdenkt und gedanklich einen Countdown laufen lässt oder zu viel grübelt, verpasst das Hier und Jetzt. Ja, es gibt ein gutes und sinnvolles Leben nach der Rente. Aber auch jeder Tag vor der Rente ist gut, lebenswert und sinnvoll!
Wochenblatt: Welches Timing ist Ihrer Meinung nach richtig?
Walz: Einen „richtigen Zeitpunkt“ ähnlich wie das Drücken einer Starttaste gibt es im Grunde nicht. Stattdessen sollte man den Weg zum Ruhestand in Stufen betrachten. Wer noch 20 oder 30 Jahre bis zur Rente hat, sollte eine grobe Vorstellung von dem haben, was er anschließend machen will. Gut zehn Jahre vorher dürfen die Überlegungen konkreter werden: Wie gestalte ich mein Leben im Ruhestand? Was macht mir Spaß? Welche Hobbys sind tauglich für junge Senioren? Nicht jeder muss mit 65 noch Paragliding machen, aber auch nicht jeden wird das Briefmarkensammeln oder die Gartenarbeit erfüllen. Es kann sinnstiftend sein, sich eine Tätigkeit zu suchen, bei der man eine Bedeutung für andere hat. Etwa ein Ehrenamt oder eine gemeinnützige Arbeit. Spätestens ein Jahr vor Beginn der Rente sollte man einen konkreten Plan haben und genau wissen, was man machen will.
Wochenblatt: Und lebenswert wird das Leben erst durch soziale Kontakte – stimmen Sie dem zu?
Walz: Auf jeden Fall – Kontakte schützen vor Alterseinsamkeit. Und auch hier komme ich nochmal auf diejenigen zu sprechen, denen eine Sinnkrise droht. Auch was Kontakte angeht, rate ich, früh die Weichen zu stellen. Statt im Berufsleben Positionsmacht zu demonstrieren, lieber öfter die soziale Seite aufblitzen lassen und Zeit in soziale Kontakte investieren – am besten außerhalb des Unternehmens. Denn Kollegen sind und bleiben Kollegen und werden nicht automatisch in der Rente zu Freunden. Fakt ist, mit zunehmendem Alter fällt es schwerer, neue soziale Kontakte zu knüpfen. Ich schlage vor, jemandem zum Geburtstag nicht (nur) Gesundheit, sondern gute Freunde zu wünschen. Daran sollte man nicht erst zum 60. denken. Denn je länger Kontakte bestehen, desto wertvoller sind sie. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Freundschaften, die vor dem 40. Lebensjahr geschlossen wurden, am beständigsten sind. Aber wir freuen uns natürlich über jedes positive Gegenbeispiel (lacht).
Wochenblatt: Herr Professor Dr. Walz, noch eine persönliche Frage zum Abschluss: Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für ein zufriedenes Leben?
Walz: Ich denke, die persönliche Haltung und die Einstellung zu den von uns oft nicht veränderbaren Gegebenheiten sind die Schlüssel. Sowohl schwere Krankheiten als auch schlimme finanzielle Engpässe sind natürlich keine guten Voraussetzungen für ein zufriedenes Leben. Jedoch schaffen es auch Menschen, die mit diesen ungünstigen Voraussetzungen konfrontiert sind, oftmals Zufriedenheit, Gelassenheit und innere Ruhe auszustrahlen. Ich habe schon lange und gute Gespräche mit gut vernetzten Schwerbehinderten geführt, aber ebenso Senioren beobachtet, die sich mit bösem – vielleicht auch nur schmerzverzerrtem – Gesicht aus ihrem völlig unpassenden Sportwagen herauswinden. Was offenbar wirklich zählt, ist der Sinn im Leben. Und dazu intakte soziale Beziehungen – am besten über den Lebenspartner hinaus. Und damit wären wir wieder am Anfang. Wenn ich das weiß, habe ich schon die wichtigsten Farben, um mir recht früh ein gutes Bild zu zeichnen, wie der Ruhestand aussieht. Und dieses positive Bild wird mich führen.