1945: Kriegsende in den Dörfern Westfalens

"Wir sahen die ersten sechs Amerikaner an der Kirche"

Im Frühjahr 1945 verteidigte sich das NS-Regime verbissen und offenbarte ein letztes Mal seine ganze Gewaltbereitschaft. Die Kämpfe in den Städten und Dörfern kosteten allein in Westfalen rund 12.000 Soldaten das Leben.

"Die erste Nachricht von der beginnenden Einkreisung wurde ins Dorf durch den beim Postamt Soest beschäftigten Postschaffner Albert Walter Mitte der Karwoche gebracht."

Mit diesem Satz eröffnete der 67-jährige Adolf Clarenbach, evangelischer Pfarrer im Bördedorf Borgeln, seine Beschreibung der Kampfhandlungen, die im Frühjahr 1945 das Ende des Krieges in Westfalen herbeiführten. Der Soester Postschaffner, so schrieb Clarenbach weiter, sei mit Postsäcken nach Brilon gesandt worden und habe dort englische, von Süden über Korbach am Rothaargebirge vorbei vorstoßende Panzer gesehen. Und weiter:

"Der Rundfunk bestätigte im Heeresbericht diese Nachricht, sprach dann von Kämpfen westlich von Münster und von einem vergeblichen englischen Vorstoß auf Paderborn. Wilde Gerüchte, wie sie jede Kriegszeit zeitigt, tauchten auf. Sie widersprachen sich oftmals. Genaueres war nicht zu erfahren. Der Heeresbericht, der ja immer die zuverlässigste Quelle darstellte, war seit dem 2. Ostertag im Radio nicht mehr zu hören, da von da ab auch die elektrische Stromzuführung gestört war. Damit versagte auch das Licht."

Unvergessene Tage im Frühjahr 1945

Die Karwoche und die Ostertage 1945 – sie waren in Westfalen die Tage des Kriegsendes. Wohl allen Menschen, die das Frühjahr 1945 zwischen Münsterland, Börde und nördlichem Sauerland erlebt haben, ist das Besondere dieser Zeit im Gedächtnis haften geblieben: als Tage zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Niederlage und Befreiung, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Nazi-Diktatur, die noch bis in ihre letzten Tage des Untergangs Tod, Gewalt und Zerstörung gebracht hatte, und einer ungewissen, sehr düster aussehenden Zukunft.

Am Donnerstag nach Ostern, am Abend des 5. April 1945, wurde das Bördedorf Borgeln von alliierten Truppen überrannt. Wie anderswo auch, waren dort Verteidigungsmßnahmen getroffen worden, die bereits den Zeitgenossen als irrsinnig und absurd erschienen. Pfarrer Clarenbach:

"Die Brücke über den Soestbach ist am Donnerstag, 5. April, am Spätnachmittag ohne jede Warnung gesprengt worden. Einen grßen praktischen Zweck hat die Sprengung nicht gehabt, da man auf dem Umweg über den Broel und die Buddemühle leicht nach Schwefe kommen konnte."

Die alliierten Truppen jedenfalls wurden weder durch solche Sprengungen noch durch die eilig befohlene Aushebung alter Männer und Kinder zum "letzten Volkssturm" aufgehalten. In Borgeln kam es am Abend des 5. April 1945 zu einem Schusswechsel zwischen einem englischen und einem deutschen Panzer, aber schon nach einer Stunde war der Spuk offenbar vorüber:

"Um 11 Uhr abends war der Straßenkampf in Borgeln beendet. Wir sahen die ersten sechs Amerikaner an der Kirche, die dann auf das Pfarrhaus zukamen und dasselbe vom Boden bis zum Keller genau untersuchten. Der Führer komplimentierte mich in höflicher Form wieder in den Keller: ,Besser in Keller'. Das Verhalten dieser Soldaten war im ganzen Haus einwandfrei."

Die Einkreisung des Ruhrgebietes im Frühjahr 1945. (Bildquelle: Wikimedia (Kernec))

Der Ring um das Ruhrrevier

Die Soldaten, die an diesem Abend Borgeln erobert hatten, gehörten zu jenem Teil der Alliierten Truppen der Heeresgruppe Montgomery, die seit Mitte März vom Rhein aus den Norden des Ruhrgebietes umgangen und das Münsterland besetzt hatten. Eine weitere amerikanische Heeresgruppe zog währenddessen von Süden her über Marburg, Korbach und Brilon nach Paderborn. Zwischen Lippstadt und Soest trafen sich diese beiden Truppen in der ersten Aprilwoche. Damit war das noch nicht besetzte Ruhrgebiet umzingelt bzw. "eingekreist", wie Pfarrer Clarenbach seinerzeit schrieb.

Auf diese Weise hatten die Alliierten einen zermürbenden Straßenkampf in den Städten des Reviers vermeiden können. Von allen Seiten her wurde dann das Ruhrgebiet Stadt für Stadt besetzt, während ein Teil der alliierten Truppen in Richtung Ostwestfalen und Weser weiterzog. Im Revier dauerten die Kämpfe noch an, ehe die letzten Gefechte in Westfalen am 22. April 1945 mit der Einnahme Dortmunds erloschen.

Diese letzten Tage des Untergangs, in denen das Nazi-Regime noch einmal seine ganze Gewaltbereitschaft offenbarte, kosteten allein in Westfalen rund 12.000 Soldaten das Leben. Noch in den letzten Kriegswochen 1945 wurden Städte wie Coesfeld, Dülmen, Paderborn oder Lage durch alliierte Bombenangriffe zerstört. Kleinstädte und Dörfer, die bis dahin den Krieg halbwegs wohlbehalten überstanden hatten, wurden noch in Schutt und Asche gelegt, weil sich fanatische, realitätsblinde NS-Funktionäre weigerten zu kapitulieren. Ein letztes Mal setzten sie Menschenleben aufs Spiel. Ein letztes Mal nahmen sie in Kauf, dass Menschen, die sie zu "verteidigen" vorgaben, starben oder Haus und Hof verloren.

Weiße Fahnen und gefährliche Übergaben

Mancherorts aber konnten sich die herrschenden Nazis schon nicht mehr durchsetzen. Berühmt ist etwa die kampflose Übergabe der Städte Ahlen und Beckum; diese Städte hatten es dem ebenso mutigen wie besonnenen Handeln des Oberfeldarztes Dr. Rosenbaum zu verdanken, der NS-Kreisleitung bzw. lokale Wehrmachtsführung zum Einlenken hatte bringen können.

Solch besonnenes Engagement wie das des Dr. Rosenbaum aber war durchaus nicht ungefährlich. Der Brackweder Bürgermeister Bitter etwa, der das Wegräumen der ohnehin sinnlosen Panzersperren befohlen hatte, wurde auf Anweisung des Kreisleiters erschossen.

Ähnlich in Lemgo: Dort wurde der Bürgermeister Gräfer von einem Standgericht zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet, weil er mit den anrückenden US-Truppen Kontakt aufgenommen und über die Übergabe der Stadt verhandelt hatte.

Die Bilanz eines Historikers

"So endete im April 1945 das bisher wohl düsterste Kapitel der Geschichte Westfalens im blutigen Chaos", fasste der Bielefelder Landeshistoriker Bernd Hey die Schrecken der letzten Kriegswochen in Westfalen zusammen. "Das Land musste mit vielen Menschenleben, dem Verlust an politischer Moral, der Zerstörung der Städte und Dörfer und der Vernichtung jahrhundertealten Kunst- und Kulturgutes seinen Preis für die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft zahlen, gewann aber mit der Befreiung durch die Alliierten auch die Chance zur Wiederherstellung von Recht und Demokratie, zum Wiederaufbau des Zerstörten und zu neuer Wohlfahrt seiner Bevölkerung."