Empfehlenswerte Bücher
Packende Lesestoffe vom Land
Etliche neue Romane spielen auf dem Dorf oder sogar auf Bauernhöfen. Jenseits von Landromantik bieten sie Einblicke in Familiengeschichten.
Kürzlich spöttelte eine Kritikerin in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) über die „Verdorfung der Literatur“. Im Fokus standen Autorinnen wie Juli Zeh, die aus der Stadt aufs Land gezogen sind und über das Leben dort schreiben. Dass es auch ganz andere Romane vom Land und aus dem Dorf gibt, beweisen die hier vorgestellten Autorinnen und Autoren. Sie gehen historische und politische Themen an. Und sie stellen gute Fragen: Welche Werte werden in einer Bauernfamilie über Generationen weitergegeben? Was passiert, wenn Gewissheiten in einem Dorf infrage gestellt werden? Wie wirkt der bäuerliche Existenzkampf auf Familien?
Mitgift: Den Vätern folgen
Auf der Longlist der nominierten Titel für den Preis des Deutschen Buchhandels tauchte im Herbst ein Roman auf, der auf einem niedersächsischen Bauernhof spielt. Geschrieben von einem Bauernsohn, Henning Ahrens. Sein Thema: Bauernsöhne als Knechte erstarrter Traditionen. Auf dem Bauernhof Leeb erfüllen die erstgeborenen Söhne die Pflichten, die ihre Stellung als Hofnachfolger ihnen auferlegt. Sie heiraten standesgemäß, folgen den Vätern, folgen den Heilsbotschaften der Kirche, folgen dem Einsatzbefehl in den Krieg. All das lässt sie verhärten und manchen zum Familiendespoten werden. Und die Frauen? Sie fügen sich bis zur Selbstverleugnung und stützen das System. Doch Wilhelm, der jüngste Spross, will sich den ungeschriebenen Gesetzen nicht beugen. Er wird zum tragischen Helden der Geschichte, die 1962 beginnt und endet, aber auch zurückgeht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. In zeitlich wechselnden Kapiteln blickt Henning Ahrens auf sieben Generationen der Leebs zurück – seiner Familie, wie er am Ende des Buches offenbart. Die Rahmenhandlung mit der Totenfrau Gerda Derking als Hauptfigur fesselt bis zum Schluss.
Bergland: Immer geht es ums Bleiben oder Fortgehen
Ein Bergbauernroman als Lesetipp für Westfalen? Ja! Denn Jarka Kubsova erzählt abseits von Kitsch und Verklärung, was Landwirtschaft unter Extrembedingungen bedeutet. Ihr Familienroman über drei Generationen beginnt mit Rosa, die früh ihre Eltern verliert und den Bauernhof ab den 1940er-Jahren allein führt. Wie die Männer schleppt sie die vom Berg ins Tal gespülte Erde in der Tragekiepe wieder hoch auf ihr Land. Sie ist so sehr mit Überleben beschäftigt, dass sie ihre Liebsten fast aus den Augen verliert. Rosas Sohn Sepp zählt zu den ersten Bauern in seiner Region, die auf Modernisierung setzen, die Kühe im Stall anbinden, einen Traktor anschaffen. Mit den Landwirten
im Flachland kann er dennoch nicht mithalten. Als Hannes und Franziska den Betrieb übernehmen, spitzt sich die wirtschaftliche Lage zu. Jede der drei Generationen steht irgendwann vor der Frage: Auf dem Hof bleiben oder fortgehen? Jarka Kubsova hat in Südtirol genau hingeschaut und gut zugehört. Für ihren Roman verbrachte sie sieben Monate auf einem Bergbauernhof im Ultental. Ihr Fazit: „Landwirtschaft ist viel dynamischer, als wir denken. Beinahe jede Generation muss sich in irgendeiner Art anpassen und neue Wege finden, um zu bestehen. Das spiegelt sich auch in den Landschaften wider.“
Wildtriebe: Drei Frauen, ein Hof und die K-Frage
Redet miteinander! Sprecht über eure Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Das möchte man den Menschen auf dem Bethches Hof zurufen. Ihr kleiner landwirtschaftlicher Betrieb irgendwo in Mittelhessen bleibt trotz Spezialisierung und Modernisierung in den 1980er-Jahren auf der Strecke. Doch das ist nicht das eigentliche Drama. Viel beklemmender ist, wie das Ungesagte in dieser Bauernfamilie Macht gewinnt. Ute Mank stellt drei Frauen der Familie in den Mittelpunkt: Lisbeth, Marlies und Joanna – die Altbäuerin, ihre Schwiegertochter und das Enkelkind. Lisbeth übernimmt nach dem Zweiten Weltkrieg als junge Frau den Betrieb. Bis Karl einheiratet und das Paar auf besondere Weise zu einem Kind kommt. Lisbeth macht daraus ein Geheimnis. Ihre Schwiegertochter Marlies steht für eine Frauengeneration, die ihr Recht auf Selbstbestimmung fordert und dabei auch die Mutterschaft einschließt. Sie steht sich dabei selbst im Wege, ist unglücklich auf dem Hof. Alle Hoffnungen in dieser Familie ruhen auf der jüngsten Generation. Joanna, das einzige Kind, entwickelt sich zu einer unkonventionellen jungen Frau. Ihre Bindung an den Hof behält sie trotzdem.
Dorfroman: Gesellschaft im Zwiespalt
Um von ausländischen Öl- und Gaslieferungen unabhängig zu werden, setzt die Bundesregierung zu Beginn der 1970er-Jahre auf Kernenergie. Die Planungen zum Bau eines Kernkraftwerkes am linken Niederrhein rufen massiven Widerstand der Bevölkerung hervor. Der Schnelle Brüter spaltet das kleine Dorf bei Kalkar. In dieser Zeit, in diesem Dorf wächst der Schriftsteller Christoph Peters auf. Davon erzählt er in seinem 2020 erschienenen Roman auf drei zeitlichen Ebenen. Der erwachsene Erzähler fährt als Besucher die Dorfstraße entlang. Er macht eine Stippvisite bei seinen Eltern, fühlt die Verantwortung für die Alten. In Rückblenden beschreibt Peters aus der Warte des Kindes, wie Tradition und Fortschrittsgläubigkeit in seinem Elternhaus gelebt werden. Er beobachtet das soziale Gefüge im Dorf: die stolzen Bauern, die letzten Knechte auf den Höfen, der Pfarrer als Landverwalter, die Kaffeekränzchen der Frauen. Dass der Vater für ein Kernkraftwerk ist, nimmt das Kind einfach hin. Doch als Atomkraftgegner ihr Lager auf einem Bauernhof errichten, kommt der jugendliche Erzähler ins Spiel. Er grenzt sich von den Eltern ab, geht auf die „Hippies“ zu. Sie bitten ihn um Unterstützung bei einer Anti-AKW-Demo. Der Erzähler ist hin- und hergerissen. Er macht nicht mit, sondern sieht aus einem Versteck zu, was seine neuen Freunde für ihre Überzeugung riskieren. Keine Heldengeschichte also. Und dadurch ehrlich. Denn so ist das Leben – viele schauen zu, was passiert.
Deutsche Dämonen: Ländliche Trümmerlandschaft
Geht es um die Nachkriegszeit in Deutschland, dann werden als Bilder zumeist Trümmerlandschaften in den Städten gezeigt. Auf dem Land haben sich diese Kriegszerstörungen in Grenzen gehalten. Umso mehr wirkten hier die seelischen Trümmerlandschaften nach. Das zumindest sagt die amerikanische Historikerin Monica Black, die zwei ungewöhnliche, heute längst vergessene Massenbewegungen in den Mittelpunkt rückt:
Da war zum einen der als Messias und Wunderheiler verehrte Bruno Gröning in Herford. Massenblätter wie der „Spiegel“ oder die „Neue Revue“ druckten sein Porträt auf den Titel. Illustrierte hielten ihn für berühmter als Bundeskanzler Adenauer. Das kam nicht von ungefähr: Zeitweise strömten Zigtausende nach Westfalen, um Gröning zu sehen, seinen Predigten zur „großen Umkehr“ zu folgen und sich von ihm heilen zu lassen.
Da waren zum anderen die Verdächtigungen von Männern und Frauen als „Hexen“. Gerade auf dem Land, in den Dörfern fanden um 1950 zu Hunderten „Hexenprozesse“ statt, von Vilshofen bis Dithmarschen – ein Zeichen des damals allseits herrschenden Vertrauensverlustes, sagt die Historikerin Monica Black.
Sie erkennt in beiden Massenbewegungen die seelische Ruinenlandschaft einer ganzen Generation: zerrissen vom Erlebten und Erlittenen der Nazizeit, „kriegsversehrt“ und tief verwundet an Körper und Seele – und beharrlich der Frage ausweichend, wie es denn um die eigene, ganz persönliche Schuld in NS-Diktatur, Massenmord und Krieg bestellt war.
"Anders als die anderen hier vorgestellten Buchtitel ist dies kein Roman, sondern ein historisches Sachbuch. Es ist in glänzendem Stil geschrieben – und es erzählt eine etwas andere Geschichte als die gewohnte Erfolgsstory der frühen Bundesrepublik: lesenswert und nachdenklich stimmend", sagt Wochenblatt-Redakteur Gisbert Strotdrees, der das Buch von Monica Black gelesen hat.
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