Wenn Jörg Lenhard durch Vreden, Kreis Borken, läuft, dann sieht er eine andere Stadt. Wo jetzt noch der Name des längst geschlossenen Ladens über der Tür hängt, hat vor seinem inneren Auge eine Vredenerin den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Wo jetzt Fotofolie die Fenster verklebt, hat der neue Coworking-Space eröffnet.
„Vreden hat Potenzial“, davon ist Lenhard überzeugt. Seit dem vergangenen Jahr ist der 61-jährige Betriebswirt Citymanager. Sein Anliegen und das vieler weiterer Akteure: Mehr Leben in der Innenstadt.
City, dieses Wort scheint für den Vredener Stadtkern etwas hochgegriffen. Vom Marktplatz aus ziehen sich rot gepflasterte Einkaufsstraßen bis zum Butenwall, auf dem einst die Stadtbefestigung verlief. Links und rechts reihen sich Ladenlokale aneinander. Rund 65 zählt Jörg Lenhard.
Der Patient Innenstadt
In den vergangenen Jahren häuften sich die Schließungen. Corona wirkte wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. „Wir hatten fast ein Drittel Leerstand“, erinnert sich Jörg Lenhard. In vielen Lokalen waren vorher familiengeführte Betriebe zu Hause. Der Citymanager weiß: Wenn ein Generationenwechsel ansteht, wird es wackelig. Verlassene Ladenlokale aber machen einen Bummel wenig attraktiv. Wenn sie dann auch noch verfallen, dreht sich die Abwärtsspirale immer schneller. Um dem gegenzusteuern, hat das Land NRW im vergangenen Jahr ein neues Förderprogramm aufgelegt. Kommunen können dabei aus einem Baukasten an Maßnahmen wählen. Die Stadt Vreden konzentriert sich auf die Anmietung leer stehender Ladenlokale. Der Deal: Die Vermieter stellen ihre Flächen für 70 % des bisherigen Mietzinses zur Verfügung. Die Stadt vermietet für 20 % weiter. Die Differenz finanziert das Land fast komplett.
Zwei Jahre lang günstig mieten
Zwei Jahre laufen die günstigen Mietverträge, dann soll der Markt es wieder richten. Im November hat Vreden die erste Förderzusage über knapp 214 000 € bekommen. Zum 1. Januar starteten die ersten Verträge mit Geschäftstreibenden, die jetzt Untermieter sind. „Heute schließen wir den 19. ab“, sagt Jörg Lenhard. An leeren Läden mangelt es trotzdem noch nicht. „Pro Monat bekomme ich zwei Leerstände dazu.“
Die großen Filialisten wollen mindestens 800 m2. Existenzgründern sind 100 bis 150 m2 genug. Wenn Zwischengrößen auf den Markt kommen, nimmt Jörg Lenhard einen Architekten mit. Als Quartiersarchitekt – ebenfalls vom Land gefördert – schaut er, ob sich Flächen teilen lassen, besser als Wohnraum oder für die Gastronomie geeignet sind.
Die Vermieter machen mit, weil die Alternative noch längerer Mietausfall wäre. Unter den neuen Pächtern sind einige, die jetzt in größere Läden ziehen und viele, die endlich den Plan vom eigenen Laden umsetzen, zum Beispiel eine Fotografin und eine Goldschmiedin.
Alles selbst gemacht
Noch ein anderes Konzept verfolgt der neue Laden am Klühnmarkt, nur wenige Meter vom Rathaus entfernt. Er heißt „Selbstgemacht“ und sieht aus wie ein Geschäft für Dekoartikel. Eigentlich ist er aber außerschulischer Lernort. Betreiber ist die Felicitasschule, eine Förderschule.
Aus dem Laden führt eine breite Treppe in einen Werkraum im Keller. Dort wickeln Melissa, Rene und Hendrik, alle 14 Jahre alt und Schüler der neunten Klasse, gerade Draht um Schweißstäbe. Die Ergebnisse sehen aus wie Rohrkolben und sind hübsche Stecker für den Garten. Oben komplettieren sie das Sortiment, das die Schule sonst vor allem bei zwei Basaren im Jahr anbietet. Floristin Hille Höltermann gehört seit 2006 zum Schulteam und betreut gerade auch ihre dritte Auszubildende. Marie-Christin Olthoff arbeitet gemeinsam mit Schülern im Laden, der montags bis freitags geöffnet hat. „Dabei lernen sie auch den Einzelhandel kennen, vom Kundengespräch bis zur Bedienung der Kasse“, sagt Hille Höltermann. Das Förderprogramm hat die Gründung erleichtert. Nach zwei Jahren kann die Schule schauen, ob das Konzept funktioniert. Gewinne kommen dem Förderverein zugute.
Hille Höltermann beobachtet, dass in der Innenstadt wieder mehr los ist. „Die Leute merken, dass es sich wieder lohnt in die Stadt zu gehen und zu schauen.“ Dabei verhehlt sie nicht, dass es auch kritische Stimmen gibt. Sie selbst hat vor der Eröffnung das Gespräch mit der Besitzerin des Blumenladens schräg gegenüber gesucht. „Wir passen auf, dass sich die Sortimente nicht zu sehr überschneiden“, sagt sie. Im letzten Lockdown hätte der Laden öffnen dürfen, hat darauf aber bewusst verzichtet.
Eine Stadt neu erfinden
„Wir müssen Vreden neu erfinden“, sagt Jörg Lenhard. „Grundsätzlich haben wir zu viel Einzelhandelsverkaufsfläche.“ Das Einkaufsverhalten hat sich Richtung Internet verschoben. Städte, die Kundschaft von außen anlocken wollen, brauchen einen zentralen Ankereinzelhändler, zum Beispiel ein großes Bekleidungshaus. Solch ein Händler fehlt in Vreden.
Punkten kann die Stadt dafür als Ausflugsziel. Durch den Stadtpark mit einer historischen Bauernhausanlage schlängelt sich die Berkel. Unweit davon steht das Kult, eine Kombination aus Museum, Archiv und Kulturort. Vorbei an der uralten Stiftskirche geht’s auf den Marktplatz.
Vreden als Ausflugsziel
Die Stadt zählt rund 23 000 Einwohner. Knapp 10 000 davon leben rundherum in den Kirchdörfern und Bauerschaften. Am bekanntesten ist Zwillbrock direkt an der Grenze zu den Niederlanden. Die vielen Touristen, die hier jedes Jahr die Flamingos beobachten, will Jörg Lenhard stärker in die Stadt locken. Winterswijk, die nächste größere Stadt auf niederländischer Seite, zählt in normalen Jahren 1 Mio. Übernachtungen. Vreden soll attraktiv werden, für Einheimische und Besucher von außen. Auf dem Marktplatz werden sich bald vier Gastronomen aneinanderreihen, vom gehobenen Imbiss bis zur Vinothek.
Vor seinem inneren Auge ist die Szenerie für Jörg Lenhard schon perfekt. „Freitagabends geht’s nach Vreden.“ Dann gibt es kleine Kulturveranstaltungen, die Geschäfte haben lange geöffnet und auf dem Marktplatz lädt die Außengastronomie ein.