Wer auf den Hof der Familie Rammert außerhalb von Oelde-Stromberg im Kreis Warendorf einbiegt, entdeckt ein fast 3 m hohes Häuschen im Vorgarten. In ihm greifen grobe Zahnräder ineinander. Langsam aber stetig bewegen sie das Seil eines Gewichts.
Es ist ein Uhrwerk. Der Laie erkennt das nicht sofort, da Ziffernblatt und Zeiger fehlen. Das Uhrwerk aus dem Jahr 1908 hing einst in einem Kirchturm in Dortmund und ließ die Glocken zur vollen Stunde schlagen. Seit 2017 gehört es zu dem Hof, auf dem bis vor 20 Jahren noch Pferde gezüchtet wurden. Heute „vermehren“ sich dort die Uhren.
Anfang mit Omas Uhr
Ein ständiges Ticken empfängt den Besucher, wenn er das Haus betritt. Im Treppenhaus hängen mehr als 30 mechanische Wanduhren aus unterschiedlichen Epochen und von verschiedenen Herstellern. Hinzukommen ein paar Standuhren im Flur. Manche hat Oliver Rammert aufgedreht, manche ruhen.
Gelegentlich schlägt eine. „Die Uhren zeigen nicht die selbe Zeit an. Das Konzert zur vollen Stunde würde einen verrückt machen“, sagt der 21-Jährige, der vor zwei Jahren seine Ausbildung zum Uhrmacher abgeschlossen hat.
Im Treppenhaus hängt auch der Zeitmesser, mit dem alles anfing: die Uhr seiner verstorbenen Großmutter. 2012 löste die Familie deren Hausstand in Vellern bei Beckum auf. Die Uhr aus dem Wohnzimmer sollte eigentlich zum Sperrmüll. Oliver, als Kind genervt von ihrem Schlag, nahm sie mit nach Stromberg.
„Die Uhr ist nichts Besonderes. Massenware aus dem Jahr 1925“, sagt Oliver, mittlerweile mit dem Blick des Kenners. Gemeinsam mit seinem Großvater öffnete er sie und begann sich für das Zusammenspiel aus Räderwerk, Hemmung und Pendel zu faszinieren.
Andere Verwandte überließen ihm ihre Uhren. Auf Flohmärkten erstand er weitere – manche deutlich unter Wert für gerade mal 10 €. Die meisten Uhren stammen aus Haushaltsauflösungen. Oliver sucht auch gezielt bei eBay und verkauft selbst Uhren weiter.
„Wir dachten, das geht vorbei. Es wäre eine Phase“, erinnert sich sein Zwillingsbruder Jens, der laut Geburtsurkunde eine Minute älter ist. Ihn stört das Geticke aber nicht. Es gibt noch genug Räume, in denen nur eine Uhr hängt. Sonst hat in der Familie niemand weder beruflich noch privat etwas mit Uhren zu tun. Der Vater ist Tischler.
Keine Reihenfolge in der Ausstellung
Heute, acht Jahre später, besitzt Oliver etwa 330 Uhren. Mehr als 200 Uhrwerke sind funktionstüchtig. Mindestens 20 Zeitmesser ticken ständig, schätzt der junge Mann. Mit einem Schlüssel oder einer Kurbel zieht er die Mechanik auf. Dadurch erhält das Uhrwerk die Energie, im gleichen Takt zu ticken.
Eine bestimmte Reihenfolge seiner privaten Ausstellung hat Oliver nicht. Auch ein Register zur Übersicht fehlt. „Noch kann ich mir Baujahr und Modell merken“, sagt er. Eine der ältesten stammt aus dem 17. Jahrhundert. Sie ist noch handgefertigt. Viele seiner Uhren kommen aus der Zeit um 1900. Damals wurden sie schon in großer Stückzahl produziert.
Schlaf trotz Ticktack
Allein in seinem Schlafzimmer stehen und hängen um die 50 Uhren. Unter anderem sein Lieblingsstück: eine Standuhr mit Sekundenpendel von Lenzkirch. Das hochwertige Exemplar stammt aus dem Jahr 1890. „Sie geht im Monat maximal zwei Sekunden nach“, betont er. Für eine mechanische Uhr ist das sehr genau. An das Ticktack im Zimmer hat er sich gewöhnt, auch im Schlaf. Einen Wecker sucht man hingegen vergeblich. „Zum Wecken nehme ich mein Handy.“
Die zahlreichen Uhren im Haus repariert er in seiner kleinen Werkstatt. Oliver blickt durch eine Lupe. Mit einer Pinzette entnimmt er gerade die Zahnrädchen einer Taschenuhr. Ein deutlich kleineres Uhrwerk als draußen bei der Turmuhr, aber vom Prinzip her ähnlich – nur das hier nicht ein Pendel für den gleichmäßigen Takt sorgt, sondern ein Spiral-Schwingsystem, besser bekannt als Unruh.
Wer an einem Uhrwerk arbeitet, braucht im wahrsten Sinne des Wortes Fingerspitzengefühl. Nach der Revision, wie das Überholen eines Uhrwerks heißt, gibt der Uhrmacher etwas Spezialöl hinzu. Neben dem Werktisch liegen leere Holzkästen und Kisten mit Ziffernblättern, Zeigern und Zahnrädern.
Meister als Mission
Für Oliver gibt es nichts Schöneres als Uhren, die für den Schrott bestimmt waren und Jahrzehnte auf dem Buckel haben, wieder fit zu machen. So machte er sein Hobby zum Beruf. Gegen Ende der Schulzeit absolvierte er ein Praktikum bei einem Juwelier mit Uhrmacherwerkstatt.
Während viele seiner Freunde nach dem Realschulabschluss Berufe wie Mechatroniker oder Kaufmann ergriffen, entschied sich Oliver für eine Ausbildung zum Uhrmacher – einem Handwerk mit langer Tradition. Die dreijährige Ausbildung schloss er bei einem Uhrmacher in Beckum ab, als einer von gerade mal zwölf des Jahrgangs in ganz NRW. „Der Beruf ist vom Aussterben bedroht“, sagt Oliver.
Mittlerweile arbeitet er in Werne bei einem Juwelier und kümmert sich da um die Uhren. Auch wenn der Beruf Uhrmacher heißt, baut er keine. Er überholt, wartet und pflegt mechanische Wand-, Taschen- und Armbanduhren. Einige der Stücke sind schon lange im Familienbesitz, ihre Gehäuse aus Gold oder Silber.
„Wenn eine mechanische Uhr regelmäßig überholt wird, kann sie mehrere Hundert Jahre alt werden“, erklärt Oliver und ergänzt: „Eine Smartwatch kann ich hingegen nicht reparieren.“
Selbst trägt er eine Moonwatch von Omega. Mit dem gleichen Modell war Armstrong auf dem Mond. In diesem Jahr steht Oliver vor seiner persönlichen großen Mission: Er möchte den Meister machen und peilt die Selbstständigkeit an. Werkstatt und Sammlung hat er schon.
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