Ein Jugendlicher im "Volkssturm" erinnert sich

Karwoche 1945: "Der Amerikaner vor Medebach!"

Der Land- und Forstwirt Alexander von Elverveldt (1929-2018) hat als 16-jähriger im "Volkssturm" das Kriegsende in Waldeck und im Sauerland erlebt. Damals hat er Tagebuch geführt – hier einige Auszüge.

Alexander von Elverveldt (1929-2018) war Land- und Forstwirt in Canstein bei Marsberg im Sauerland. In den Kriegsjahren hat er das Gymnasium in Arolsen / Waldeck besucht.

In seinen Erinnerungen, um 2010 verfasst und als Buch publiziert, hat er sehr vielschichtig und selbstkritisch seine Erlebnisse in jener Zeit beschrieben: die Irrungen und den militanten Wahn in der Hitler-Jugend, in der er als Jungfunktionär tätig war, die Erschütterungen der Kriegsjahre, den Alltag auf dem elterlichen Gutshof in Canstein und das Kriegsende. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges war Elverfeldt als 16-Jähriger zum "Volkssturm" eingezogen worden und geriet bei Kriegsende in Gefangenschaft.

Im Frühjahr 1945 hat er Tagebuch geführt, das er kurz nach seiner Heimkehr vervollständigte. Hier folgen seine Originalaufzeichnungen zum Kriegsende in der Karwoche 1945.

Die Aufzeichnungen sind veröffentlicht im Buch: Alexander von Elverfeldt: Ein Gutshof mit Stallgeruch - Landleben auf Gut Canstein (1929 - 1997). Herausgeben von Gisbert Strotdrees. Landwirtschaftsverlag Münster 2011.

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8. MÄRZ 1945 ABENDS

Den ganzen Tag liegt schon eine seltsame Stimmung über dem Lager. Gerüchte tauchen auf. Der Amerikaner in Frankenberg! Vor Medebach!

Auf Stube 8 große Aufregung. Einige Kameraden packen ihre Sachen. Sie wollen abhauen. Da gegen 7 Uhr kehrt der Lagerführer zurück. Ich spreche noch mit dem Fahrer des Motorrades, mit dem er kam. Er ist ein alter HJ-Kamerad von mir. Er weiß aber auch nichts Näheres über alle diese Gerüchte.

Der Lagerführer geht sofort auf Stube 8 und beruhigt die aufgeregten Kameraden. Der Dienst geht weiter. Um 8.30 Uhr wird das ganze Lager in den großen Speiseraum befohlen. Der Lagerführer kommt mit sehr ernster Miene herein. Er beginnt zu sprechen:

„Meine Kameraden! Die Lage ist sehr, sehr ernst für Deutschland geworden. Der Feind ist nun auch hier bis in unsere Heimat vorgestoßen. Gestern Abend wurde er schon in Medebach erwartet. Der Gauleiter war bereits dort, um sich von der Verteidigungsmöglichkeit zu überzeugen. Haltet euch bereit. Auf Befehl des Führers sollen alle Jungen über 15 Jahren zurückgeführt werden. Auch wir können jederzeit abrücken. Es wird euch sehr schwerfallen, so ohne Abschied von den Eltern und der ganzen Familie abzurücken, aber es geht nicht anders. Keiner reißt aus. Es werden Posten mit geladenem Karabiner aufgestellt.“

Nach dieser Ansprache bemächtigte sich meiner eine ohnmächtige Wut. Dann aber verwandelte sich diese in die stolze Gewissheit, die Heimat und alles, was uns lieb ist, verteidigen zu dürfen. Wir gingen bald zu Bett. Ich schrieb noch einen Abschiedsbrief, den ich versuchen wollte, der Heimat zuzustellen, wozu es aber nicht mehr kam.


29. MÄRZ 1945 – GRÜNDONNERSTAG


Morgens Schießdienst. Ich hatte gerade ziemlich gut geschossen und durfte deshalb in das Lager zurückgehen. Ich fertigte gerade eine Liste meiner Stube an. Da sah ich plötzlich die Kameraden im Eiltempo vom Schießstand zurückkehren. Dann kam sofort das Kommando: „Die Stubenältesten zum Lagerführer!“

Da war mir alles klar. Es ging also los. In einer halben Stunde musste alles gepackt sein. Alle Lagersachen mussten mitgenommen werden. Nach dem Antreten ließ der Lagerführer 30 Mann vortreten, die Handwagen requirieren sollten. Darunter war auch ich. Ich erbeutete zwei Handkarren und kehrte ins Lager zurück.

Dort half ich unserem Wachtmeister beim Kofferpacken. Dann wurde angetreten und der Marsch begann.
Da ich als Melder eingeteilt war, weil ich ein Fahrrad hatte, brauchte ich nicht so schwer zu schleppen wie die Kameraden, die auch noch die Handkarren mit dem Lagerinventar ziehen mussten. Gegen 2.30 Uhr kamen wir vor Usseln an. Es wurde eine kurze Ruhepause befohlen und alle Waffen wurden eingesammelt und fortgebracht.

Ich unterhielt mich gerade mit unserem Wachtmeister, als eine Staubwolke aus Richtung Düdinghausen herannahte. Als sie näherkam, erkannten wir kleine Autos mit Soldaten, ähnlich den deutschen Fallschirmjägern. Plötzlich hörte ich einen davon ausrufen: „Oh my Christ!“

Da wurde es mir zur Gewissheit, dass dies die ersten Amerikaner waren. Dann kamen Panzer in endloser Reihe. Nach einer Weile kam MP (Militärpolizei), die uns antreten ließ und alle Waffen, auch Taschenmesser abgeben ließ. Dann wurden wir durchsucht und dabei nahm mir ein Amerikaner Füllhalter, Drehbleistift und andere Kleinigkeiten weg und steckte sie mit einem höhnischen „Thank you“ in seine Tasche.

Da es langsam zu regnen begann, marschierten wir nach Usseln ab, wobei ich mein Fahrrad mitnehmen konnte, aber den größten Teil meines Gepäcks zurücklassen musste.

Nun meldete ich mich als Dolmetscher und half den Amerikanern mit, den richtigen Raum für uns zu suchen. Wir kamen in der Schützenhalle unter, wo wir die Nacht ziemlich deprimiert, aber doch humorvoll verbrachten. Am nächsten Tage sollte ich noch manchem Kameraden zur Flucht verhelfen.


30. MÄRZ 1945 – KARFREITAG

Den Morgen verbrachte ich hauptsächlich mit dem amerikanischen Hauptmann zusammen im Dorf. Mittags erhielten wir Verpflegung durch die Gemeinde. Eine dünne Milchsuppe. Nachmittags komme ich gerade mit dem Käpten aus dem Dorf zurück, da sieht er unglücklicherweise einen meiner Kameraden, der am Abhauen war. Er knallt sofort einen Warnschuss in die Luft und holt ihn dann zurück. Nun musste ich dolmetschen. Es war sehr schwer für mich, aber ich konnte den Kameraden loseisen, indem ich sagte, er sei ein Einwohner des Dorfes.

Abends wurden wir auf Lastwagen verladen und nach Brilon in die Volksschule gebracht. Mein Fahrrad musste ich zu meinem Leidwesen in Usseln stehen lassen. Die Nacht verbringen wir in einem Klassenzimmer dieser Schule. Ein Briloner versucht auszureißen, wird aber geschnappt.


31. MÄRZ 1945 – Karsamstag


Wir werden wieder auf Autos verladen, wobei ich mein restliches Gepäck zurücklassen muss, und nach Medebach transportiert. In der letzten Minute riss ich schnell noch meinen warmen Wollpullover und meine Decke aus dem Rucksack.

Dort müssen wir den ganzen Tag an der Kirche stehen. Keiner darf sich setzen oder legen. Am Abend soll es weitergehen.

Am Abend ruft mich der Sergeant zu sich. Ich muss mit ihm zum Pastor gehen. Er will uns in der Kirche unterbringen, denn er rechnet nicht mehr mit dem Eintreffen der Lkw. Nach langem Hin und Her sollen wir in die Kapelle gebracht werden. Wir müssen dazu zum Küster gehen. Ich rufe der Frau des Küsters noch schnell meine Adresse zu, und dass sie versuchen soll, den Meinigen Nachricht zu geben, dass ich mich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft befinde. Was sie aber nicht tat, wie ich jetzt erfuhr.

Bald darauf, wir sind gerade damit beschäftigt, die Bänke in der Kapelle wegzuräumen, kommen die Trucks und wir werden abtransportiert, wieder wie die Heringe im Fass. Die Fahrt geht die ganze Nacht. Es war die furchtbarste Nacht meines bisherigen Lebens.


1. APRIL 1945 – OSTERSONNTAG

Wir kommen im Morgengrauen in einem kleinen Orte, Eisemroth mit Namen, an. Dort stehen auf einer Wiese rund 3000 deutsche Kriegsgefangene. Wir werden auch zu diesen gepfercht und treffen unsere Ausbilder wieder. In einer Ecke des Lagers liegen einige Zeltbahnen ausgebreitet über undefinierbaren Körpern. Auf meine Frage hin gibt mir ein Landser zur Antwort: „Och, das sind Malariakranke.“

Man stelle sich vor: Soldaten, schwer krank, liegen hier in knöcheltiefem Morast und haben nur eine Zeltbahn über sich. Ein furchtbares Schicksal. Und kein Arzt, kein Lazarett, man lässt sie einfach so verrecken. Nun werden Stimmen laut. Einige Landser meinen, man sollte doch die Jungs hier heraustransportieren, denn eine Nacht in diesem Elend würde für viele der Tod sein.

Nun ging ich als Dolmetscher mit einer Abordnung der Landser zu dem Posten, und ich versuche, ihm unsere Lage klarzulegen. Gegen Mittag werden erst die Verwundeten und dann die Jungs abtransportiert. Wohin? Wir wissen es nicht.

Es geht westwärts. Bald können wir an den Straßenschildern erkennen, dass es in Richtung des Rheines geht. Endlich der Rhein. Nach langer Fahrt glänzt vor uns der Rhein. Unser herrlicher deutscher Rhein, so muss ich dich sehen. Aber trotzdem ist es schön, denn wir haben, dank der Sani-Soldaten, sehr viel Platz und können sitzen.

Titelseite der Erinnerungen von Alexander von Elverveldt (Bildquelle: LV Buch)


Der Tag, der meine Welt änderte

So erinnert sich Alexander von Elverfeldt heute (2009) an das Kriegsende 1945

Im Rückblick erinnere ich mich noch an viele Einzelheiten, die ich in diesem sachlich-pathetischen Tagebuch schon aus Zeitnot nicht erwähnen konnte.

Als wir bei der Gefangennahme aufgereiht vor den Siegern standen und durchsucht worden waren, hatte sich in wenigen Minuten die Welt für mich völlig verändert. Der Captain der Military Police (MP) blickte uns an und fragte. „Who can speak English?“ Ich hob ohne Zögern die Hand und war der Einzige. Die Wenigen von uns, die Schulenglisch gelernt hatten, trauten sich nicht, die Hand zu heben.

Ein guter Ratschlag

Meine Großmutter Helene Ostman von der Leye, die gebürtige Amerikanerin war und die wir „Oma Mesi“ nannten, war während des Krieges nach dem Tod unseres Großvaters zu uns nach Canstein gezogen. Sie pflegte uns Kinder vor allem bei Tisch zu ermahnen: „Gute Manieren und fremde Sprachen sind das Wichtigste, das man für das Leben lernen muss.“

Sie beließ es nicht nur beim Ermahnen, sondern wurde, energisch wie sie ihr Leben lang war, auch aktiv. Einmal pro Woche musste ich bei ihr erscheinen, um englische Konversation mit ihr zu pflegen. Nach kurzer Zeit hatte sie mich so weit, dass ich meine Angst, einfach draufloszureden, verlor. Mein Wortschatz aus drei Jahren Vokabelnpauken in der Arolser Oberschule für Jungen war dafür bereits eine gute Grundlage.

Was auf diese meine Meldung als Dolmetscher erfolgte, veränderte die Welt für mich. Die Machtverhältnisse verschoben sich komplett. Die Amerikaner waren die neue Staatsmacht und hatten den „Führer“ abgelöst. Der Lagerleiter und die gefürchteten Ausbilder waren zu normalen Kriegsgefangenen ohne Befehlsgewalt degradiert.

Gedrehte „Hackordnung“

Stattdessen war ich, der Stubenälteste von Stube 8 durch eine Anweisung der Mächtigen der Boss all derer, die da aufgereiht standen und der Kommandos des Captains harrten, die ich zu übermitteln hatte. Ich war zur wichtigsten Person in unserer Gruppe aufgestiegen. Das Sprichwort „Wissen ist Macht“ bewahrheitete sich.

Dieses Erlebnis war eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Der Gründonnerstag 1945 veränderte die Welt, die ich bis dahin gekannt hatte. Von heute auf morgen war die „Hackordnung“ umgedreht worden. In wenigen Stunden stand ich ohne Verbindung zum Elternhaus mit einer Decke und dem, was ich an Kleidung am Leibe trug, allein im Regen hinter Stacheldraht auf einer Wiese. Nur meine Sprachkenntnisse verschafften mir einen kleinen Vorteil gegenüber meinen Kameraden. Ja, die ehemaligen Vorgesetzten kamen zu mir als Bittsteller, um mir mitzuteilen, was ich den Amerikanern von ihnen sagen sollte.

Während des Transportes von Usseln nach Brilon hatten wir unsere ersten Erfahrungen mit der Verladung von Menschen auf Lastwagen gemacht. Mann neben Mann stehend wurden wir auf die Ladefläche
gepfercht. Nur wer am Rand oder hinter dem Fahrerhaus stand, hatte einen Halt. Alle übrigen wurden in den Kurven hin und her geschleudert, denn die farbigen Fahrer fuhren wie die Wilden. Die Seitenborde bogen sich jedesmal durch und wir fürchteten, dass sie brachen. Später erfuhr ich von Leidensgenossen im Gefangenenlager, dass es bei solchen Unfällen Tote gegeben hatte.

Ein Sprung vom Lkw

Wir lösten das Problem, indem diejenigen, die hinter dem Fahrerhaus standen jeweils warnend „Rechtskurve“ oder „Linkskurve“ riefen, damit sich die Menschenladung in die Gegenrichtung lehnen konnte, um die Fliehkraft auszugleichen. Das klappte bald sehr gut. Außerdem beobachteten wir bei der Fahrt in der Dunkelheit, dass sich in den Bergen des Sauerlandes der Abstand zwischen den Lkw manchmal so sehr erweiterte, dass die Scheinwerfer des nachfolgenden Wagens den Wagen davor nicht mehr anleuchteten. Auch kam es vor, dass beim Bergauffahren die schwer beladenen Lastwagen sehr langsam wurden und beim Schalten fast zum Stehen kamen. Aus diesen Beobachtungen kamen einige Kameraden auf die Idee, eine Gelegenheit, bei der unser Lkw langsam wurde und der folgende Wagen uns nicht beleuchtete, zum Abspringen zu benutzen.

Auf der langen Nachtfahrt von Medebach nach Eisemroth bot sich eine solche Gelegenheit. „Los, runter!“, riefen meine Komplizen und sprangen ab. Leider war ich zu diesem Zeitpunkt nicht am Rande der Ladefläche, sondern döste wie die meisten todmüde im Stehen an die Nachbarn gelehnt in der Mitte des Fahrzeugs. So verpasste ich diese Chance. Die drei, die abgesprungen waren, sind, wie ich später hörte, gut zu Hause angekommen.

Mein Captain von der Militärpolizei, dessen steter Begleiter ich als Dolmetscher in Usseln war, stammte aus Oklahoma und war Lehrer von Beruf. Er war ein freundlicher Mann und sehr um unsere Versorgung bemüht. Heute bedauere ich, dass ich mir seinen Namen und seine Adresse damals nicht habe geben lassen und ihn wiedergesehen habe. Doch wie hätte ich zu der Zeit auch nur ahnen könne, dass ich später noch so oft in Amerika sein würde?

Flucht aus der Schützenhalle

Als wir in der Schützenhalle in Usseln eingesperrt waren, zogen sich viel von uns ihre Drillichuniform aus und ihre Zivilsachen aus dem Gepäck an. Dann versuchten sie zu entkommen. Das war nicht leicht, denn an jeder Öffnung des Gebäudes standen GIs Posten. An der Rückseite gab es allerdings nur ein Fenster. Dieses Fenster war nur von einem jungen Amerikaner bewacht, der wohl sicher nicht viel älter war als wir, so 18 oder 19 Jahre. Sein Platz war von den anderen Posten aus nicht einzusehen.

Es sprach sich wie ein Lauffeuer herum, dass dieser Posten wegguckte, wenn einer von uns in Zivil aus dem Fenster sprang. Auf diesem Wege sind wohl sicher etwa 20 bis 30 von uns entwischt und nach Hause gelaufen. Einen davon konnte ich vor dem Captain retten, wie ich in meinem Tagebuch geschildert habe. Mir bot sich diese Chance nicht, da ich Esel ja in Uniform im Lager angereist war und kein Zivilzeug besaß.