Kriegsverbrechen in Westfalen

Kriegsende 1945: 208 Morde im Arnsberger Wald

Noch in den letzten Kriegstagen 1945 ermordeten Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS im Sauerland 208 Zwangsarbeiter. Die meisten Opfer kamen aus Polen und Russland. Erst jetzt werden die Spuren erforscht.

Die Stille war nicht zu überhören. Plötzlich stand da dieses Paar Damenschuhe auf dem Tisch. Gebannt und schweigend schauten rund 50 Journalistinnen und Journalisten zu, wie der Archäologe Manuel Zeiler während der Pressekonferenz im Warsteiner Rathaus die Schuhe vor sich auf den Tisch stellte. Daneben legte er ein Brillenetui, ein paar verwitterte Münzen, eine Tüte mit bunten Perlen und Knöpfen und rostige Metallblätter einer Mundharmonika – allesamt archäologische Fundstücke, die von einem grauenhaften Kriegsverbrechen im Arnsberger Wald zeugen.

Wenige Tage vor Kriegsende 1945 ermordeten Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS im Langenbachtal bei Warstein, in der Gemarkung „Im Stein“ bei Suttrop sowie auf einer Kuhweide bei Eversberg insgesamt 208 Zwangsarbeiter. Die Opfer kamen größtenteils aus Polen und Russland. Es waren zumeist junge Männer und Frauen – und sogar auch Kinder.

„Bewegungsprofil der Täter“

Dieses Kriegsverbrechen war im Sauerland nie in Vergessenheit geraten. Bereits im Frühjahr 1945 hatten britische und amerikanische Soldaten ehemalige NSAmtsträger der Orte gezwungen, die Toten zu exhumieren und umzubetten. Zuvor musste die Bevölkerung an den Toten vorbeiziehen. Ein amerikanisches Kamerateam, zufällig in der Nähe, filmte und fotografierte alles. 1957 gab es einen Gerichtsprozess, der weitere Fakten zutage förderte.

Viele Fragen aber blieben nach wie vor offen. Ein Team von Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) hat an den drei Tatorten Ausgrabungen vorgenommen, um Spuren zu sichern und den Ablauf der Erschießungen zu klären.

Spurensuche an der Mescheder Fundstelle: Ehrenamtliche Helfer untersuchten das Gelände in gleichmäßigen Reihen mit Sonden. (Bildquelle: Manuel Zeiler / LWL)

Die insgesamt 400 Funde zeigten ein „Bewegungsprofil der Täter“, seien aber auch eine letzte Botschaft der Opfer, resümierte der LWL-Landesdirektor Matthias Löb. Solche Forschungen seien notwendig, denn:

„Ohne genaues Faktenwissen über das, was damals passiert ist, ist eine vernünftige Erinnerungskultur nicht möglich.“ Seit einigen Jahren würden die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur heruntergespielt, verharmlost und sogar geleugnet. „Gerade die Mordaktionen sind beispielhaft für diesen Bestandteil unserer Geschichte, dem wir uns stellen müssen.“

Perlen, Besteck, Gebetbuch

Die Archäologen fanden die meisten Fundstücke im Langenbachtal bei Warstein. Allein dort seien sechzig Frauen, zehn Männer und ein Kind unter einem Vorwand in den Wald gebracht und erschossen worden, erläutert der Historiker Marcus Weidner. Am Straßenrand hätten die Opfer zuvor ihre Habseligkeiten und ihre Kleidung ablegen müssen. Die Kleidungsstücke seien später an Bedürftige des Ortes gegeben worden, „die von der Herkunft nichts wussten“, so Weidner. Das Geld der Opfer verschwand in der Divisionskasse.

Nur wenige Spatenstiche tief im Boden entdeckten die Archäologen Geschirr, Besteck, ein Gebetbuch, ein polnisches Wörterbuch, Perlen und Knöpfe zum Aufnähen und andere Habseligkeiten der Opfer. Ähnliches fanden sie auch an den anderen beiden Tatorten.

Im Erdreich tauchten auch Spuren der Täter auf. Bei Eversberg etwa sprengte die Einheit eine Grube in den Boden, in der die 80 Opfer erschossen wurden – all das konnte erst jetzt ermittelt werden.

Dr. Marcus Weidner, Historiker im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, arbeitet die Kriegsendphaseverbrechen im Sauerland auf. Bei der Grabung in Suttrop haben die Sondengänger Patronenhülsen und eine Emaille-Schüssel gefunden. (Bildquelle: Kathrin Nolte / LWL)

Nur 14 Namen bekannt

Bis heute sind lediglich 14 der 208 Toten identifiziert. Vielleicht erlauben die im Waldboden gefundenen Habseligkeiten ja noch weitere Rückschlüsse auf die Opfer aus Polen und Russland.

„Wir sind es diesen Ländern, aber auch uns selbst schuldig, dass wir uns dieser Taten erinnern“, betonte Dirk Wiese, Russlandbeauftragter der Bundesregierung. „Kinder und Enkel der Opfer haben ein Recht darauf zu erfahren, warum ihre Eltern und Großeltern nicht aus Deutschland zurückgekehrt sind.“

Würdiges Gedenken

Eine Dokumentation der Forschung soll 2020 vorliegen. Im Anschluss wird es um die Frage gehen, in welcher Form die beiden Kommunen im Sauerland der Opfer gedenken und an die Untaten erinnern. „Wir tragen Verantwortung dafür, dass daran erinnert wird und dass es nie wieder passiert“, sagt Bürgermeister Thomas Schöne aus Warstein. Die Funde und Forschungen, so ergänzt sein Mescheder Amtskollege Christian Weber, stellten eine wichtige Grundlage dar, um den örtlichen Waldfriedhof „Fulmecke“ neu gestalten zu können.

Auf diesem Waldfriedhof sind seit der Umbettung die meisten, aber nicht alle Opfer beigesetzt. Sieben Tote, auch das ergaben die Forschungen, wurden seinerzeit nicht umgebettet. Sie liegen noch immer im Wald bei Suttrop. Wo genau, weiß niemand – vermutlich an einem Ort, an dem die Stille nicht zu überhören ist.

Link zu einem Filmdokument

Ein Original-Film des US Army Signal Corps vom 3. Mai 1945 ( Original in den US-National Archives, Washington - 9.15 min Länge) dokumentiert einige Szenen aus Suttrop, unter anderem auch die Exhumierung des Massengrabes in Suttrop.