Jüdisches Landleben: Landwirtschaft im Nebenerwerb

Kleinbauern, Viehhändler und eine besondere Ökonomie

Ein Garten oder ein Streifen Land zur Selbstversorgung, eine Wiese oder einen Acker – das war bis weit ins 20. Jahrhundert für viele Familien auf dem Land üblich, auch für Landjuden in Westfalen.

Die Zahl der jüdischen Landwirte in Westfalen war gering und betraf laut preußischer Statistik nur eine verschwindend kleine Gruppe. Doch der Eindruck täuscht: Bereits um 1850 verfügten deutlich mehr Landjuden in Westfalen, als es die Statistik vermuten lässt, über ein Stück Land, das sie entweder erworben oder gepachtet hatten. Wenn sie selbst die Flächen nicht bewirtschafteten, so geschah dies mit fremder Hilfe bzw. in Lohn- und Auftragsarbeit durch ihre christlichen Nachbarn. So wird mit Blick auf Grundbesitz jüdischer Eigentümer aus Rahden am 9. Juli 1824 berichtet:

„Das Land ist bis auf das eigene Haushaltungsbedürfnis vermietet, und die Bestellungen werden durch Ackerleute verrichtet.“ Ähnlich ließen auch viele ihrer christlichen Nachbarn, die über etwas Land verfügten, die Arbeiten "in Lohn" erledigen. Auch sie beauftragten Acker- und Fuhrleute, die für sie den Mist aufs Feld fuhren, das Feld pflügten oder die Ernte einbrachten.

Getreide, Pferde, Schlachtvieh, Textilien

Der Landbesitz bildete darüberhinaus eine wichtige Voraussetzung vieler Juden für die Tätigkeit im Getreide- und mehr noch im Viehhandel. Dieser begrenzte Wirtschaftssektor war der einzige, in dem Juden im ländlichen Westfalen des 19. und 20. Jahrhunderts eine tatsächlich dominierende Rolle spielten. Sie schlossen die Lücke zwischen lokalem Viehhandel und den Schlachthöfen der Industriestädte, übten damit eine zentrale, für die Landwirtschaft wie auch für die Versorgung der Städte kaum zu überschätzende Funktion im Austausch agrarischer Produkte aus.

Der Viehhandel war unter damaligen Bedingungen eng mit dem Besitz von Land, vor allem von Futterweiden, verknüpft. Auf ihnen wurden die Pferde gehalten und das Handelsvieh – Pferde, Rinder, Kühe, teilweise auch Schweine – vor dem Weiterverkauf bzw. der Lieferung an den Schlachthof zeitweise ausgetrieben bzw. gemästet.

Der Landbesitz der jüdischen Viehhändler in Westfalen war oft kleinteilig und überschritt nur selten eine Flächengröße von 2 ha. Er konnte aber in Einzelfällen durchaus stattlichere Ausmaße aufweisen. Die Familie Humberg etwa, seit den 1880er Jahren in Dingden bei Bocholt ansässig, lebte vor allem vom Textilhandel und einer Metzgerei, besaß dazu auch eigenes Vieh und 10 ha Land. Die Viehhändlerfamilie Steinfeld in Versmold, um ein anderes Beispiel zu nennen, bewirtschaftete in den 1920er und 1930er Jahren 15 ha „Judenwiesen“, wie die Flächen unter der Versmolder und Greffener Bevölkerung genannt wurden.

Zwei weitere Beispiele aus Münster bzw. dem Münsterland
Der Münsteraner Viehhändler Salomon Gumprich (1852 Borghorst-1938 Düsseldorf-Kaiserswerth) besaß bei Lüdinghausen ein Landgut von rund 150 ha. Die Flächen nutzte er vornehmlich zur Pferdehaltung. Dort wurden alljährlich im Frühjahr die Pferde auf die Weiden getrieben und im Herbst verkauft. In Münster bewohnte Gumprich mit seiner Familie ein ansehnliches Bürgerhaus an der Neubrückenstraße und betrieb neben seinem Viehhandel eine Manufakturwarenhandlung.

Hugo Hertz (1875 Coesfeld-1937 Münster) betrieb von Münster aus Pferdehandel im überregionalen Maßstab, teils sogar mit Handelsverbindungen nach Frankreich, Russland und Persien. Hertz gehörte landwirtschaftliches Eigentum in Gremmendorf, Mecklenbeck und Lienen, außerdem besaß er Weiden in Hiltrup, Kleingärten im Geistviertel sowie „Stallungen für hunderte von Pferden“ in der Nähe seines Wohnsitzes an der Annenstraße. Genaue Größenangaben sind nicht überliefert.

Handwerkerumzug 1934 am Markt in Harsewinkel: Das Haus gehörte der Familie Mendels, die eine Textilhandlung und Viehhandel mit etwas Landwirtschaft betrieb. (Bildquelle: Stadtarchiv Harsewinkel)

"Die großen Felder mit Rüben, Möhren und Kartoffeln"

Das Land musste beackert, bewirtschaftet, gepflegt werden. Diese Arbeiten wurde, wenn es nicht als Auftrag an Nachbarn bzw. Bauern im Dorf vergeben wurde, von den Händlern selbst bzw. von ihren Familien und deren Knechte und Mägde erledigt. Damit waren diese jüdischen Unternehmer, auch wenn sie vornehmlich als Händler bzw. Kaufleute galten, eben auch landwirtschaftlich tätig bzw. mit diesem Wirtschaftssektor eng verbunden. Käthe Mendels etwa, Ehefrau des Kaufmanns und Viehhändlers Karl Mendels in Harsewinkel (damals Kreis Warendorf) beschrieb später mit wenigen Strichen die ineinandergreifenden wirtschaftlichen Aktivitäten, als sie – nach der Emigration nach Australien – im Rückblick auf das Jahr 1936 notierte:

„Wir hatten (in Harsewinkel) ein großes Haus mit drei Stockwerken. Der Tuchwarenladen lag dahinter, dann das Vieh- und Pferdehandelsgeschäft, was bedeutete, dass wir immer Tiere in unseren Pferdeställen hatten, im Sommer auch auf unserer Pferdekoppel in der Stadt. Außerdem hatten wir einen großen Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus und einen weiteren, der etwa eine halbe Stunde entfernt lag. Dort waren auch die großen Felder mit Rüben, Möhren und Kartoffeln, die wir als Futter für das Vieh benötigten. Wir hatten immer zwei Bauernmädchen, von denen eine immer bei der Feldarbeit zu helfen hatte, sowie auch einen jungen Mann als Knecht beschäftigt.“

Nicht erst der Handel mit Agrarprodukten bzw. Vieh, sondern schon solche ausgesprochen landwirtschaftlichen Tätigkeiten verschafften den Juden eine besondere Nähe zur Praxis und zum Lebensalltag der Bauern bzw. der ländlichen Bevölkerung. Über sie erhielten von den lokalen bzw. regionalen landwirtschaftlichen Verhältnisse eine intensive Kenntnis, ohne die wiederum die Abläufe im Vieh- und Getreidehandel kaum zu organisieren waren.

Eine Besonderheit jüdischen Landlebens

Mit den strikten Vorgaben preußischer Statistik war diese Mischökonomie, waren diese wechselseitig sich ergänzenden, ja bedingenden Tätigkeiten im primären und sekundären, bisweilen auch im tertiärem Sektor kaum zu erfassen. Dabei bildete gerade diese komplexe Mischökonomie eine Besonderheit jüdischen Lebens auf dem Land. Die wechselseitige Verschränkung schien Stabilität in Krisenzeiten zu versprechen. Überdies barg sie zu allen Seiten hin Entwicklungsmöglichkeiten. Der Lehrer Hugo Rosenthal, 1887 in Lage geboren und bis 1910 in Gütersloh tätig, brachte diese agrarische Mischwirtschaft und ihre Potentiale auf den Punkt, als er schrieb:

„Die Mitglieder meiner kleinen Gemeinde waren fast durchweg Viehhändler und Metzger. Die meisten hatten etwas Land, das sie selbst bebauten, in der Hauptsache mit Futterrüben oder ähnlichem Viehfutter. Wirkliche Landwirtschaft betrieb keiner, aber sie hätten alle gute Landwirte sein können.“

Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.


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