"Nicht singen zu dürfen, ist richtig schlimm. Eine Gemeinde ohne Gesang - das geht eigentlich gar nicht. Singen öffnet die Seele.“ Pfarrer Herwig Behring schaut mit gemischten Gefühlen auf das vergangene Jahr. Wie überall in Westfalen fielen auch in der Evangelischen Gemeinde Warendorf während des Lockdowns im März die öffentlichen Gottesdienste aus, danach fanden sie nur mit Einschränkungen statt. Doch der Geistliche kann auch Positives aus der Zeit ziehen.
Predigt vor der Kamera
In Warendorf fand man einen Weg, um mit der Gemeinde zusammenzukommen: „Wir stiegen früh um auf Live-Übertragungen im Internet“, erzählt Pfarrer Behring. „Schließlich ist der Gottesdienst der Pulsschlag der Kirchengemeinde.“ Schnell fanden sich technikaffine Jugendliche, die sich ehrgeizig ans Werk machten. Von vielen Seiten kam technische Unterstützung - und nach ein paar Holpersteinen läuft die Übertragung heute reibungslos. Inzwischen sind in der Christuskirche sieben Mikrofone verteilt, hinzu kommen Kamera, Rechner und Mischpult.
„Die ersten Male war es sehr komisch, vor der Kamera zu stehen. Vor allem fehlte es mir, die Reaktionen in den Gesichtern lesen zu können, “ so der 58-Jährige. Doch auch das ist Gewöhnungssache - wie so vieles in diesem Jahr. Und die Online- Gottesdienste haben ihre Vorteile. „Das Angebot ist niederschwellig. Einige Mitglieder, die sonst nicht regelmäßig in die Kirche kamen, sind jetzt jede Woche dabei.“ Wer sonst mit den harten Bänken oder auch Blasenproblemen zu kämpfen hatte, hat es leichter. Die Lautstärke kann jeder selbst einstellen, Texte und Liedstrophen werden eingeblendet. „Inzwischen schaue ich immer wieder direkt in die Kamera, um mit den Menschen vor den Bildschirmen in Kontakt zu treten,“ erzählt Pfarrer Behring.
Das Gefühl, allein zu sein
Eine dieser Menschen ist Helmtraut Schulte. Sie gehört sonst zu den regelmäßigen Kirchgängerinnen in der Gemeinde. Die 82-Jährige ist technisch auf dem neuesten Stand. Ihr alter PC ist dank Tablet, Laptop und Smartphone bald überflüssig. „Ich nutze die Geräte - dass ich mich gut damit auskenne, würde ich nicht behaupten“, meint sie. Doch den Live-Stream des Gottesdienstes zu verfolgen, ist für sie ein Kinderspiel. In den ersten Wochen des Lockdowns schaltete sie auch Fernsehgottesdienste ein - wie viele andere. Die kirchlichen Formate bei ARD und ZDF konnten ihre Zuschauerzahlen während der Pandemie nahezu verdoppeln.
Doch Helmtraut Schulte ist dankbar, auch mit der eigenen Gemeinde feiern zu können. Dann zündet sie daheim eine Kerze an, stellt Blumen auf und schafft sich so einen ruhigen Rahmen. Die Lieder singt sie vor dem Bildschirm mit. Doch trotz allem: „In der Kirche kapsle ich mich zwar innerlich ab, bin für mich mit Gott“, beschreibt sie. „zuhause aber fühle ich mich tatsächlich allein.“ Nie hätte die Seniorin gedacht, dass ihr die vertrauten Gesichter in den Kirchenbänken neben ihr so fehlen würden. Vor allem das Abendmahl, das ihr Trost und Kraft gibt, vermisst sie. Und ein anderer Punkt gibt ihr zu denken: „Die Übertragung startet sonntags erst um 10 Uhr. Sonst waren wir um 9.30 Uhr in der Kirche. Ich fürchte, da werden wir alten Leute träge!“
„Da mache ich nicht mit!“
Pfarrer Herwig Behring schaut mit Besorgnis auf einige Angebote der Gemeinde. „Corona wirkt wie ein Brennglas auf Schwierigkeiten, die es vorher schon gab.“ Die Frauenhilfe etwa hat sich seit März nicht mehr zum Austausch getroffen. Ob es wieder dazu kommen wird, weiß der Pfarrer nicht. Die Konfirmationen ließen sich in den Spätsommer verlegen und in kleinere Gruppen aufteilen. Die Online- Treffen mit den Jugendlichen funktionieren zwar gut, ersetzen aber den persönlichen Kontakt ganz und gar nicht. „Jugendliche sind vor dem Bildschirm schnell abgelenkt. Und es fällt schwerer, eine Vertrauensbasis aufzubauen“, bedauert Herwig Behring.
Das Allerschlimmste während des Lockdowns aber war für den Pfarrer, dass Menschen allein sterben mussten. Nicht nur Angehörige, auch Geistliche durften Altenheime und Krankenhäuser nicht betreten. „Da mache ich nicht noch einmal mit! So darf niemand sterben.“ Auch das gehöre zu den Dingen, die wir alle in diesem Jahr schmerzlich lernen mussten.
Weihnachten und die frohe Botschaft
Die Aussicht auf Weihnachten klingt dagegen optimistisch. Am Heiligen Abend sollen in Warendorf drei ökumenische Gottesdienste draußen stattfinden - etwas verkürzt, sonst wird es zu kalt. Und wer mag, bekommt vorab eine Audio- oder Video-CD, mit der den Gottesdienst daheim abspielen kann. „Das Wichtigste ist, die gute Nachricht zu verbreiten und den Menschen jetzt Mut zu machen. Wo sonst alles aus den Fugen gerät“, so Pfarrer Behring. Geplant sind auch zwei Gottesdienste in der Kirche - mit vorheriger Anmeldung. Dort wird dann auch Helmtraut Schulte mitfeiern. Es sei denn, sie fährt doch zu ihrem Sohn. Dann zieht sie sich für eine Weile ins Gästezimmer zurück und schaltet sich online zu. „Das immerhin hätte ich vorher nicht gekonnt.“