„Wenn ich heute durch mein Heimatdorf im Kraichgau gehe, bin ich immer wieder erstaunt – mir fehlen die vertrauten Klänge und Geräusche. Wo sind die Nachbarsfrauen, die auf einen Schwatz am Fenster stehen, die älteren Dorfbewohner, die sich auf einer Bank niedergelassen haben und von alten Zeiten erzählen?
Wo sind die Kinder, die lärmend auf den Höfen oder in den Gassen spielen, sich mit den Fahrrädern Wettrennen liefern, oder die jungen Kerle, die mit ihrem Moped eine Runde nach der anderen vom Ober- ins Unterdorf und zurück rasen, um gesehen und bewundert zu werden? Wo sind die vielen Traktoren, deren unterschiedliches Motorenrattern deutlich voneinander zu unterscheiden zwischen den Häuserreihen widerhallt? Bei meinen Besuchen kommt es mir hier heute fast unbewohnt und museal vor, in großem Kontrast zu all den sinnlichen Eindrücken meiner Kindheit in den 60er-Jahren.
Vertraute Gemeinschaft
Die Kartoffelernte läutete das Ende des Sommers ein. Hier waren ganz selbstverständlich einige Nachbarinnen und Tagelöhner mit dabei, als wir die Kartoffeln auflasen, die mein Vater oder einer meiner Brüder vorher Reihe für Reihe mit Traktor und Schleuderroder ans Tageslicht befördert hatten. Dazu brauchte es einen sonnigen Tag und idealerweise einen abgetrockneten Boden. Denn sonst musste man Kartoffel für Kartoffel von der feuchten, klebrigen Erde befreien.
Eindrücklich ist mir, dass einer unserer Helfer – Robert – hier von Kartoffel-Melken sprach. Wie eine große und vertraute Gemeinschaft bückten wir uns und füllten die Drahtkörbe, um sie dann in die bereitgelegten Säcke zu leeren. Beim Abendläuten und der untergehenden Sonne konnte man genau sehen, wie viel man an diesem Tag geschafft hatte. Die Säcke wurden aufgeladen.
Größtmögliche Geborgenheit
Am Ende des letzten Tags dann folgte das ersehnte Kartoffelfeuer, dessen Duft ich noch heute in der Nase habe und der eine Dankbarkeit in mir aufsteigen lässt: für dieses tiefe Gefühl von größtmöglicher Geborgenheit – alles schien am richtigen Platz, dem Gesetz der Jahreszeiten seit Urzeiten zu folgen, alle wichtigen Menschen um mich herum gaben Sicherheit und Vertrautheit. Was konnte mir schon passieren?
Meine Kindheitserfahrungen und der wachsende Respekt vor der Lebensleistung meiner Eltern und Großeltern geben mir heute im fordernden Großstadtleben eine innere Ruhe und Stärke, für die ich dankbar bin.“
Regina Aldinger, geb. 1960,
aufgewachsen im Kraichgau (Baden-Württemberg)
Die drei Geschichten stammen aus dem Buch „Was die Dörfer einst zusammenhielt“. 19 Männer und Frauen aus ganz Deutschland schildern darin ihre Kindheitserinnerungen an ein Dorfleben, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Sie berichten von einer Welt reich an Arbeit und arm an Geld. Von einem Leben zwischen Idylle, Enge und Engagement. Sie schildern das Verschwinden der Bauernhöfe, der Gasthäuser und der kleinen Dorfläden.
Was die Dörfer einst zusammenhielt – von Ulrike Siegel. LV Buch, ISBN 978-3-7843-5708-9, 18 €.
„Alle Höfe waren ungefähr gleich groß oder klein, jeder Deutz machte das gleiche Tucker-Geräusch, jedes Dorf hatte ein einheitliches Grün für den Anstrich der Stalltüren, in fast jedem Haus waren schon – modern und evangelisch – meist genau zwei Kinder. Alle Bauern hatten ähnliche Sorgen, Kies vorm Haus, Backsteinhöfe, große Tische für viele Helferinnen und Helfer und genau ein (!) Auto für drei Generationen. Es unterschieden sich Schmuck, Bildung, Promille, Bücherschränke, Tischwäsche, Klavierstunden. Aber alle hauchten morgens gegen die Eisblumen am Schlafzimmerfenster.
So mancher alter Nachbar erschien - unangekündigt
Am Sonntag gab es wie selbstverständlich eine Art Frühschoppen im Wohnzimmer, zu dem so manch alter Nachbar (natürlich unangemeldet) erschien. Es wurde Zigarre geraucht (die man auch als Nichtraucher immer bereitzuhalten hatte) und gefachsimpelt. Meine ,Sendung mit der Maus‘ fiel dem zwar zum Opfer, aber lernen konnte ich genauso viel. Krankheiten der Menschen und Tiere. Ob der ,Euterschütze‘ wieder zugeschlagen hatte, der nachts den Kühen mit dem Gewehr durchs Euter schoss, wer trank und wer seine Frau schlug. Das Neueste aus dem Kirchenvorstand.
Und Bonn rauf und runter! Im Gegensatz zu heute kannte ich alle Minister. Der beißende Qualm stand noch in der Luft, wenn die Männer gingen und der echte „Frühschoppen“ mit Werner Höfer über den Bildschirm lief, danach das Sonntagskonzert.
"Alle sind gleich und alle sind anders."
Wir haben nun – 50 Jahre später – Frühschoppen mit einigen syrischen Ehepaaren geplant, für die wir lange Sprachpaten waren. Mein größter Wunsch nach dieser Corona-Zeit sind diese Zusammenkünfte.
Ich bin eine Generation älter als unsere geflüchteten Freunde und wir stellen fest: Wir haben dasselbe verlorene Bild von Dorf, Gemeinschaft, Nähe und analogem Leben, vom Gemüsegarten, von der Großfamilie, von unangekündigten Treffen, von Akkordeonspiel auf einer Bank zwischen den Häusern, bescheidenem Spielzeug, Lagerfeuer, Tradition und Neuanfängen, von Gegenseitigkeit. Von Sprache! Das Dorfleben mit seiner Gemeinschaft, seinen Neubürgern, seinen Unterschieden – alle sind gleich und alle sind anders.
,Alles wirkliche Leben ist Begegnung.‘ (Martin Buber) Das hielt uns einst zusammen und sonst nichts.“
Annette, geb. 1962,
aufgewachsen am Niederrhein
„In meiner Kindheit was es üblich, dass in der Gemeinde verschiedene Sammlungen durchgeführt wurden. Jährlich vor Muttertag wurde für das Müttergenesungswerk gesammelt, Anfang November für die Kriegsgräberfürsorge und zweimal im Jahr – im Frühjahr und im Herbst – für die Caritas. Mit großen Spendendosen wanderten wir von Hof zu Hof, von Haus zu Haus.
Keiner wollte als knickrig gelten
Die Bewohner trugen sich dann mit Namen und dem Betrag, den sie spendeten, in die Liste ein. So konnte jeder sehen, was die Nachbarn gespendet hatten. Am besten war es, wenn der Erste in der Liste mit einem höheren Betrag die Messlatte für alle folgenden Spender hoch setzte. Das spornte die Spendenbereitschaft an, denn keiner wollte vor den Augen der Nachbarn als „knickrig“ gelten, und unsere Dosen füllten sich.
Froh über die Abwechslung
Es war nicht immer ein dankbarer Job, aber wir lernten so unsere Nachbarn besser kennen. Auch waren wir so eine Art Nachrichtendienst. In den Häusern wurden wir oft begrüßt mit der Frage, was es Neues in den Tälern gäbe und wie es bei uns zu Hause liefe. Nebenbei erfuhren wir alles Neue aus den Häusern. Vor allem die älteren Bewohner waren froh über diese Abwechslung in ihrem Alltag.
Wenn ich heute eine Spende per Onlineüberweisung tätige, dann vermisse ich die Kinder mit ihren Dosen und auch ein wenig die Listen mit dem Spendenbetrag der Nachbarn!“
Nikolaus König, geb. 1969, aufgewachsen in Siedelbach im
Hochschwarzwald (Baden-Württemberg)
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