Nachkriegszeit in Westfalen 1945-1949

Flüchtlinge und Vertriebene: "Schließlich sind wir Menschen!"

Sie kamen von Deutschland nach Deutschland – und waren anfangs doch Fremde, nicht nur in Westfalen: Flüchtlinge und Vertriebene in den ersten Nachkriegsjahren.

"Jetzt wohnten wir in Westfalen, konnten wieder frei sein von Angst und Terror, aber um welchen Preis? Die Familie war auseinander gerissen, von Freunden, Bekannten und Nachbarn getrennt. Misstrauen herrschte auf beiden Seiten. Unterhielten sich Einheimische untereinander, verstanden wir ihre Sprache nicht, kannten nicht einmal ihre Gebete. Für sie waren wir ,die Flüchtlinge', und auch noch evangelisch!"

Zehn Jahre alt war Manfred Reimann, als er mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern aus Schlesien nach Westfalen, ins katholische Vreden im Westmünsterland kam. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich an die Erfahrungen der Ankunft und des Fremdseins in einer völlig neuen, ihm unbekannten Umgebung.

Manfred Reimann zählt zu den rund 7,5 Mio. Männern, Frauen und Kindern, die bis 1949 aus den ehemaligen Ostgebieten nach Westdeutschland kamen. Ihre Heimat war nach Kriegsende russisch oder polnisch geworden. Die deutschen Bewohner waren gewaltsam vertrieben und umgesiedelt, wenn sie nicht schon vorher geflohen oder evakuiert worden waren.

Heimisch werden?

Im Westen angelangt, war die Odyssee der allermeisten Flüchtlinge und Vertriebenen nicht zu Ende. Lager, dürftige Unterkünfte auf Bauernhöfen, karge Hütten, die eilig am Waldrand oder am Ende des Dorfes errichtet wurden: Das waren die Stationen für Millionen Menschen.

Allein in Nordrhein-Westfalen wurden bis Mitte 1947 rund 900.000 Flüchtlinge gezählt. Bis zur Währungsreform im Juni 1948 wuchs ihre Zahl auf insgesamt 1,4 Mio. Ein Drittel wurde im Rheinland, zwei Drittel wurden in Westfalen untergebracht. In manchen ländlichen Kreisen wie Herford, Höxter, Brilon oder Meschede wurde jeder dritte Einwohner in der Statistik als "evakuiert" oder "geflohen" verzeichnet.

Die trostlose Lage der Flüchtlinge und Vertriebenen brachte der Inspekteur des Coesfelder Kreisflüchtlingsamtes auf den Punkt, als er im Juli 1947 schrieb: Die Stimmung der Neuankömmlinge sei so, "wie sie bei einem Menschen sein muss, dem man die primitivsten Rechte, nämlich Heimat, Unterbringung, Kleidung und Nahrung vorenthält, ohne Aussicht, jemals wieder ein menschenwürdiges Dasein führen zu können."

Das Vorhaben, die Flüchtlinge "hier heimisch werden zu lassen", stoße auf "unüberwindliche Schwierigkeiten", so der Inspekteur weiter. Als Gründe nannte er vor allem die schlechte Unterbringung und die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten. Neben diesen materiellen Problemen kam anderes hinzu: Unterschiede der Sprache, der Konfessionen, der Bräuche und der Lebensgewohnheiten vertieften die Gräben zwischen den Einheimischen und den Flüchtlingen. Vor allem in ländlichen Regionen Westfalens, die stark von altüberlieferten Traditionen und Wertvorstellungen geprägt waren, prallten die Gegensätze aufeinander.

Wohnen auf engstem Raum

Nicht selten mußten die Flüchtlingsfamilien mehrere Jahre auf engstem Raum wohnen – zum Beispiel in der ostwestfälischen Gemeinde Rödinghausen (Kreis Herford). Im April 1949, also vier Jahre nach Kriegsende, herrschten dort dramatische Wohnverhältnisse, wie eine Statistik aus jener Zeit festhält. Demnach lebten in
jeweils einen einzigen Raum

  • 16 Familien mit 4 Personen,
  • 6 Familien mit 5 Personen und
  • 1 Familie mit 6 Personen.

In jeweils zwei Räumen wohnten

  • 65 Familien mit 4 Personen,
  • 36 Familien mit 5 Personen,
  • 7 Familien mit 6 Personen,
  • 3 Familien mit 7 Personen und
  • 1 Familie mit 8 Personen.

Kaum anders sah es in anderen ländlichen Gemeinden Westfalens aus. Schon diese Enge sorgte für zum Teil heftige Reibereien untereinander und gegenüber der einheimischen Bevölkerung.

Hinzu kam der tägliche Konflikt um Nahrungsmittel, Möbel, Hausrat, Heizstoffe, Kleidung "und um vieles andere mehr, was in der Mangelphase der Nachkriegszeit gehörigen Wertzuwachs erfahren hatte", wie der Historiker Peter Exner schreibt. Er hat dieses Kapitel der frühen Nachkriegsgeschichte am Beispiel der drei westfälischen Gemeinden Heek (Kreis Borken), Ottmarsbocholt (Kreis Coesfeld) und Rödinghausen untersucht.

Jeden Tag Kakao und Speck - für die anderen

In den Akten fand Exner den Brief eines Schlesiers aus Breslau, der mit seiner Familie in einem karg möblierten Raum eines Geschäftes im münsterländischen Heek untergebracht war und der über seinen "Vermieter" wetterte:

"Wie kann man heute noch jeden Tag Kakao kochen, Speck ins Essen tun, schon früh Käse und Schinken aufs Weißbrot! So leben Nazis! Ich kann meinen Kindern kaum eine trockene Kartoffel bieten!"

Neben der Versorgung mit Lebensmitteln war und blieb die Unterbringung das zentrale Konfliktfeld schlechthin – in Heek wie anderswo in Westfalen. Da es allerorten an Wohnraum fehlte, standen Zwangseinquartierungen in Wohnungen, ja sogar Beschlagnahmungen ganzer Häuser auf der Tagesordnung. Das sorgte für Ärger unter den "Hiesigen". Ihr Widerstand musste bisweilen mit Polizeigewalt durchgesetzt werden.

Wellblechhütten und "Sklavenmarkt"

Die von Krieg und Flucht gezeichneten "Habenichtse" sahen sich oft auch abgedrängt in leer stehende Viehställe und feuchtkalte, dunkle Wellblechhütten als Notunterkünfte. Dies sorgte wiederholt für Proteste der Flüchtlinge. "Schließlich sind wir Menschen und kein Vieh!", schrieb eine Flüchtlingsfrau in Heek im Juli 1947.

Wie auf einem "Sklavenmarkt" fühlte sich dort ein anderer Neubürger, wie er der Militärregierung in Ahaus schrieb; Bauern des Ortes suchten die Vertriebenen unter dem "Gesichtspunkte der Arbeitsfähigkeit" aus, so sein bitterer Vorwurf. Die Gemeindevertreter hingegen hielten es "für ihre Pflicht, dass arbeitsfähige Menschen bei Landwirten und nicht bei Dorfbewohnern, wo sie zum Nichtstun verurteilt sind, untergebracht werden", wie sie im August 1946 schrieben.

Entgegenkommen und Hilfe

Andererseits gab es viel Entgegenkommen, Mitleid und Unterstützung aus gegenseitigem Einverständnis – und das spiegelt sich nicht so unmittelbar in den Unterlagen der Behörden wie die zahlreich dokumentierten Konflikte. Doch in den Akten finden sich auch nicht die tiefen Wunden, die durch Beschimpfungen geschlagen wurden, an die sich manche Flüchtlinge noch bis ins hohen Alter, erinnern konnten: an Worte wie "Polacken" oder "hergelaufenes Pack", an Sprüche wie "Hängt die Wäsche ab, die Flüchtlinge kommen" oder auch "Wir haben zwei Plagen: Kartoffelkäfer und Flüchtlinge!".

Der Ahauser Landrat Sümmermann wird gewusst haben, warum er sich im März 1946 in deutlichen Worten an die einheimische Bevölkerung wandte; er wies sie an, die Neuankömmlinge korrekt aufzunehmen, da "auch einzelne Fälle der Ablehnung und schlechter Behandlung bekannt geworden" seien. Sümmermann drohte denjenigen, die sich fehlverhielten, "dass sie auf Befehl der Militärregierung aus ihren Häusern entfernt und ßüchtlinge in diese eingewiesen" würden.

Das eigentliche Wirtschaftswunder

Insgesamt sei "der Wille, die Neuankömmlinge unterzubringen, auf materielle und mentale Grenzen" gestoßen, so Peter Exner zusammenfassend. "Nach einer Welle der mildtätigen Hilfsbereitschaft reagierte die einheimische Bevölkerung auf die Vertriebenen, deren Rückkehr immer unwahrscheinlicher wurde, mit Abgrenzung und dem Willen, den eigenen Besitzstand zu wahren."

Doch einige Jahre später sollte alles ganz anders kommen. Die Flüchtlinge wurden nicht nur "eingegliedert", sondern sie leisteten selbst einen erheblichen Anteil am Wirtschaftsaufschwung der 1950er-Jahre. Diesen Prozess, den man mit Fug und Recht als das "eigentliche Wirtschaftswunder" bezeichnen kann, konnte in den bitteren Jahren der unmittelbaren Nachkriegszeit noch niemand ahnen.