Jüdisches Landleben: Selbstorganisation, Widerstand, Emigration

Fluchtpunkt Landwirtschaft: Ein Bauernhof als rettende Insel

Auf einem Bauernhof im Münsterland konnten jüdische Jugendliche noch bis 1938 Landwirtschaft erlernen. Dieser "Kibbuz Westerbeck", das einzige Hachschara-Lehrgut in Westfalen, diente der Fluchthilfe.

Hachschara – dieses hebräische Wort bedeutet so viel wie „Tauglichmachung, Vorbereitung“. Seit den 1920er Jahren stand es für ein Programm der zionistischen Jugendbewegung: Auf Bauernhöfen und Gütern in Deutschland sollten jüdische Jugendliche all das lernen, was sie benötigten, um in Palästina leben und arbeiten und das Land besiedeln zu können. Ackerbau, Gartenbau und Hauswirtschaft standen dabei ebenso auf dem Programm wie jüdische Geschichte, Literatur oder auch Iwrit, das als Sprache aus dem Hebräischen entwickelt worden ist. Ein entsprechendes Zertifikat erlaubte ihnen die Einreise in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina.

Was als freiwillige Initiative begonnen hatte, wandelte sich unter dem Druck zunehmender NS-Repressalien nach 1933: Nun waren die Ausbildungsstätten für viele deutsch-jüdische Jugendliche eine der wenigen Möglichkeiten, der NS-Verfolgung und dem staatlichen Mordprogramm des Holocaust zu entkommen. Bis 1938/39 duldete das NS-Regime die Umschulung der Juden, „solange sie in geschlossenen Lehrgängen und nicht bei deutschen Bauern und Handwerkern erfolgt und soweit sie die Auswanderung vorbereiten soll“, wie es in einem internes Memorandum hieß.

1935 gab es 31 Hachschara-Lehrbetriebe für Landwirtschaft und Gärtnerei in Deutschland. Aufgrund ihrer Ausbildung konnten zwischen 1933 und 1938 mehr als 18.000 jüdische Jugendliche aus Deutschland emigrieren, die meisten von ihnen in nach Palästina. Das war etwa jeder vierte aus der Generation der 6- bis 25jährigen.

Sie nannten den Hof "Kibbuz Westerbeck"

Auch in Westfalen, im Münsterland, existierte zwischen 1933 und 1938 ein Hachschara-Lehrgut. Es befand sich auf einem Bauernhof in der Bauerschaft Westerbeck bei Westerkappeln, damals Kreis Tecklenburg, im Münsterland und war das einzige seiner Art in der einstigen preußischen Provinz Westfalen. Die Jugendlichen selbst nannten den Hof in den 1930er-Jahren „Kibbuz Westerbeck“, obwohl es im strengen Sinne kein gemeinschaftlich bewirtschafteter Hof war, sondern eine Ausbildungsstätte – und ein Zufluchtsort.

Der bis heute existierende, im Privatbesitz befindliche Hof ist im frühen 19. Jahrhundert erwähnt, dürfte aber deutlich älter sein. Seit Dezember 1932 befand sich der Hof im Eigentum des Osnabrücker Pferdehändlers Rudolf Stern und seines Bruders, des ebenfalls in Osnabrück tätigen Kaufmann Leo Stern. Die beiden hatten im Zuge einer Zwangsversteigerung den Bauernhof mit dem Wohnhaus, den Stallungen und Scheunen sowie rund 20 ha Land erworben.

Der jüdische Pfadfinderbund „Makkabi Hazair“ pachtete den Hof und baute dort eine Ausbildungsstätte der „Mittleren Hachschara“ (MiHa) auf. Sie wandte sich an jüdische Schulabgänger im Alter von etwa 15 bis 17 Jahren, denen aufgrund der NS-Gesetze eine berufliche Ausbildung verwehrt wurde.

"Pioneers" für Palästina
Dem Pfadfinderbund Makkabi Hazair, 1934 aus einer Fusion entstanden, gelang es, binnen weniger Monate mehrere eigene „Zentren“ aufzubauen. Ein Rechenschaftsbericht von 1936 nennt „Westerbeck“ – ohne weitere Angaben – neben drei weiteren Zentren in Alt-Karbe in der Neumark, Trockenfeld und Quenzsee bei Brandenburg. Die „Erziehung der jüdischen Jugend in Deutschland für den Aufbau Erez Israels“ zählte Makkabi Hazair zu seinen Hauptaufgaben. Er sah sich der „Erziehung des Einzelnen“, dem Leistungsprinzip und dem „Primat des Nationalen“ im Sinne des Zionismus verpflichtet: In seinen Hachschara-Zentren strebte Makkabi Hazair „eine gründliche und gediegene Berufsausbildung“ sowie ein intensives sportliches Training an. Da der Pfadfinderbund mit der jüdischen Sportbewegung „Makkabi“ verflochten war, wurde dem Sport...


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