Inwieweit hat ein spezielles katholisches Milieu die Taten begünstigt?
Einer der wichtigsten Faktoren ist tatsächlich die Pastoralmacht des Priesters gegenüber den Kindern. Je dichter das katholische Milieu ist, je stärker jemand in diese katholische Lebenswelt gebunden ist, desto stärker ist auch die Möglichkeit des Täters, ihn im Zweifel vom Missbrauch als einer „gottgewollten Tat“ zu überzeugen. Insofern ist überall da, wo diese Glaubenszusammenhänge besonders dicht sind, diese Gefahr potenziell höher. Martin Schmitz, Leiter einer Selbsthilfegruppe in Rhede, hat das mal gut ausgedrückt: „Ich wurde missbraucht, nicht obwohl, sondern weil ich katholisch war.“ Die jungen Betroffenen sind meist katholisch gebunden, als Messdiener aktiv gewesen. Seit den 1960er-Jahren haben die katholischen Milieus allerdings an Bedeutung verloren, in der Stadt geschah das schneller als auf dem Land.
Gab es Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Das hört sich naheliegend an. Das katholische Milieu ist auf dem Land in der Regel dichter, beispielsweise im Oldenburger Münsterland oder im ländlichen Westfalen. Der Ort von Taten war aber vor allem von der Versetzungspolitik des Bistums abhängig. Also: Wo schickt man den Intensivtäter als Nächstes hin? Wir haben versucht abzuprüfen, ob es besonders betroffene Orte und Regionen gibt. Da haben wir aber keine statistische Abhängigkeit gefunden.
Welche Rolle spielte ein überhöhtes Bild von Priester und Kirche?
Das ist bis in die 1980er-Jahre hinein der entscheidende Faktor. Betroffene berichten immer wieder, dass sie selbst nicht klar bekommen haben, was es an Taten gegeben hat, weil es ein stark überhöhtes Priesterbild gab. Sie scheuten sich, die Verbrechen öffentlich zu machen, um den Priester nicht zu diskreditieren. Das gilt auch für die Menschen drumherum. Das wirkt zugunsten der Täter. Das ist deren Macht und das deckt sie.
"Das Reden über Sexualität im Katholischen ist eine Art von lautem Schweigen."
Über Sexualität wurde sehr lange kaum gesprochen. Welchen Einfluss hatte das?
Das Reden über Sexualität im Katholischen ist eine Art von lautem Schweigen. Auf der einen Seite wurde immer darüber gesprochen, in jeder Beichte wurden Sexualpraktiken thematisiert und abgefragt. Ein offenes Sprechen im Alltag aber gab es nicht, sondern nur eine verdruckste Kommunikation über Sexualität. Das kam den Tätern zugute und machte es den Betroffenen noch einmal schwerer, die Taten zu thematisieren und damit eventuell auch zu stoppen. Selbst in den Personalkonferenzen des Bistums sprachen Bischof und Weihbischöfe eher nebulös und für die Täterseite. „Da war mal was mit Jungs“ ist eine dieser beschönigenden Formulierungen. Die wahren Hintergründe blieben damit verborgen. Niemand machte sich wirklich klar, was den Betroffenen widerfahren ist.
Ihre Studie wirft ein Schlaglicht auf Mitwisser des Missbrauchs. Warum hat selten jemand den Mund aufgemacht?
In engen katholischen Lebenswelten ist man sich nicht fremd, sondern weiß voneinander: von der Pfarrhaushälterin, über den Vorsitzenden des Pfarrgemeinderats, den Leiter der Jugendgruppe und die Kochfrau im Zeltlager bis zu den Priestern im selben Weihejahrgang und zuletzt Bistumsverwaltung und -leitung. In manchen Fällen ist der sexuelle Missbrauch ein offenes Geheimnis gewesen. Aber wenn Sie nicht nur den Priester als heiligen Mann sehen, sondern die Kirche als heilige Institution, dann fällt es schwer, einen Priester tatsächlich zu bestrafen. Jede Organisation will sich schützen, aber in der katholischen Kirche ist die Motivation zu vertuschen besonders hoch.
Sie warnen vor einem Schlussstrich unter das Thema. Was muss aus Ihrer Sicht geschehen?
Mit unserer Studie haben wir das Wissen um die Taten vergrößert, aber das ist nur ein allererster kleiner Schritt der Aufarbeitung. Man muss gesellschaftlich, politisch und kirchenpolitisch Konsequenzen ziehen. Das steht jetzt an.
"Bis heute sehen sich Betroffene häufig übergangen und verletzt."
Ist die Kirche allein damit überfordert?
Ja, das ist mein Eindruck. Es ist generell schwierig, sich als Institution am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Kirche und Gesellschaft reden seit zwölf Jahren, seit dem Canisius-Fall in Berlin, offen über sexuellen Missbrauch. Aber bis heute sehen sich Betroffene häufig übergangen und verletzt. Ich würde von Regierung und Justiz erwarten, dass sie gemeinsam Formen finden, den Staat stärker in die Pflicht zu bringen. Zum Beispiel über einen Beauftragten mit eigenen Ermittlungsrechten. Die Opfer sind schließlich nicht nur Katholikinnen und Katholiken, sondern auch Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.
Wie ist Missbrauch durch katholische Geistliche im Vergleich zur Normalbevölkerung zu sehen?
So ganz genau wissen wir das nicht. Sexueller Missbrauch ist auch in der Gesamtgesellschaft ein tabuisiertes Thema. Das ist kein entschuldigendes Argument für die katholische Kirche, aber wenn man das ins Kalkül zieht, sieht man auch, dass wir in mancher Hinsicht eine Stellvertreterdebatte führen. Es wäre gut, wenn insgesamt die Aufmerksamkeit für Bereiche wächst, wo es besondere Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse gibt.
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