Internierungslager und Spruchgerichte

Entnazifizierung: "Als ob nichts geschehen wäre"

In den Nachkriegsmonaten 1945 wurden viele Verantwortliche des NS-Regimes verhaftet und interniert, in Westfalen unter anderem in Staumühle bei Paderborn. Doch die folgende "Entnazifizierung" lief weitgehend ins Leere.

Am 18. Juli 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, erschien in Münster erstmals wieder ein Nachrichtenblatt. Die amtlichen "Bekanntmachungen der Stadt Münster", so ihr Titel, waren herausgegeben vom Oberbürgermeister Karl Zuhorn. Einer der ersten Sätze der "Bekanntmachungen" lautet:

"Sofern Adolf Hitler noch leben sollte, ist ihm auf Grund von § 21 Abs. 2 der Deutschen Gemeinde-Ordnung das Ehrenbürgerrecht aberkannt worden." Und weiter war dort zu lesen: "Die Adolf-Hitler-Straße heißt jetzt wieder Bahnhofstraße, die Hermann-Göring-Straße heißt jetzt wieder Nordstraße."

Mit diesen Sätzen begann in der einstigen NS-Gauhauptstadt Westfalens das, was später "Entnazifizierung" genannt wurde. Wie in Münster, so wurden überall im Land Schulen, Kasernen, Flugplätze und andere öffentliche Gebäude "gereinigt": Hakenkreuze wurden abgeschlagen, Fahnen verbrannt, Namen ausgewechselt.

Der eher symbolischen Aktion folgte die Überprüfung und Bestrafung von Männern und Frauen, die in Behörden, Polizei und Schulen, Verbänden und Unternehmen an führender Stelle die Sache der NSDAP vertreten und sich schuldig gemacht hatten – ein Verfahren, das bis weit in die 1950er Jahre die Gemüter bewegen und das politische Denken im Land prägen sollte.


Flugblatt der Weißen Rose: "Vergesst nicht die kleinen Schurken dieses Systems"

Um die Entnazifizierung ranken sich viele Legenden. So ist vor allem von "Ewiggestrigen" behauptet worden, die Entnazifizierung sei "dem deutschen Volk" von den alliierten Siegermächten aufgezwungen worden. Übersehen wird dabei, dass die "Befreiung vom Nazi-Ungeist" sehr früh eine Kernforderung aller demokratischen Parteien in Westdeutschland gebildet hatte. Die Forderung, die Verantwortlichen des NS-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, zählte überdies zur moralisch verpflichtenden Hinterlassenschaft des Widerstands gegen Hitler-Deutschland. Berühmt sind etwa die Sätze aus einem Flugblatt der süddeutschen Widerstandsbewegung "Die Weiße Rose". Sie hatte bereits im Juni 1942 formuliert:
"Aus Liebe zu kommenden Generationen muß nach Beendigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, daß niemand auch nur die geringste Lust je verspüren sollte, Ähnliches aufs Neue zu versuchen. Vergesst auch nicht die kleinen Schurken dieses Systems, merkt Euch die Namen, auf dass keiner entkomme! Es soll ihnen nicht gelingen, in letzter Minute noch nach all diesen Scheußlichkeiten die Fahne zu wechseln und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre!"
Diese Worte klingen, als hätten die Autoren der Flugblätter geahnt, wie die Sache bereits wenige Jahre nach Kriegsende ausgehen sollte…

In den ersten Monaten nach Kriegsende lag die Verfolgung der einstigen NS-Elite in Händen der britischen Militärregierung. Sie richtete eine Reihe von Internierungslagern ein. In ihnen wurden bis zum Sommer 1949 insgesamt rund 90000 Personen zeitweilig festgehalten und überprüft; hinzu kamen 4000 Internierte, denen persönlich Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden.

In Westfalen gab es zwei solcher Lager: in Recklinghausen mit rund 8.000 Internierten sowie in Staumühle bei Paderborn mit etwa 10.000 Internierten. Die erste Verhaftungswelle mündete bereits Ende 1945 in "vollen Internierungslagern und leeren Ämtern", wie es der Bielefelder Historiker Christoph Kleßmann auf den Punkt gebracht hat.

Das Blatt mit 133 Fragen

Zur gleichen Zeit gab die britische Militärregierung den später so berüchtigten "Fragebogen" heraus. Ihn hatte auszufüllen, wer in den öffentlichen Dienst eintreten, wer Beamter, Angestellter werden oder wer einen hervorgehobenen Beruf antreten wollte. In 133 Fragefeldern mussten persönliche Angaben gemacht werden zur politischen Vergangenheit, zu Berufsleben, Vermögensverhältnissen, Auslandsaufenthalten usw. Auf falsche bzw. unterschlagene Angaben drohten hohe Strafen.

"Als Antifaschist bekannt": Urteil über Gerhard Löwenkamp von 1946. (Bildquelle: Bundesarchiv Berlin)

Zu Beginn des Jahres 1946 begann die Militärregierung damit, die deutsche Bevölkerung an der Entnazifizierung zu beteiligen. So war sie in den neu eingerichteten Spruchgerichten vertreten. Diese Spruchgerichte überprüften vor allem die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, also in Justiz, Polizei, Schulen und Verwaltung.
Insgesamt wurden in Nordrhein-Westfalen bis 1950 rund 800.000 Personen auf ihre Vergangenheit hin durchleuchtet und von den Spruchgerichten in fünf Kategorien "eingestuft".

Rund drei Viertel aller Personen wurden als "entlastet" (Kategorie V), weitere 20 % als "Mitläufer" (IV) eingestuft, während etwa 4 % als "Aktivist" (III) beurteilt wurden. "Übeltäter" (II) und "Verbrecher"(I) bildeten die zahlenmäßig kleinste Gruppe – und selbst sie konnten, je weiter das Kriegsende zurücklag, mit milden Urteilen rechnen.

"Persilscheine": Wer entlastete wen?

Die Arbeit der Spruchgerichte lief schon früh weitgehend ins Leere. Das hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen fanden die meisten Belasteten Zeitgenossen, die bereitwillig Entlastungszeugnisse, die so genannten "Persilscheine", ausstellten; zum anderen scheiterte die gründliche Überprüfung daran, dass in Zuge des Wiederaufbaus in Wirtschaft und Verwaltung Fachkräfte dringend benötigt wurden.

Wie stark dieser Zwang war, mag ein Blick auf die Landesbauernschaft Westfalen zeigen. Sie hatte gegen Kriegsende rund 1800 Beschäftigte, darunter mehr als 40 % Parteimitglieder. Nach einer internen Statistik wurden bis zum Februar 1946 "bei der Reinigung vom Nazigeist" 463 Beamte und Angestellte entlassen.

Diese frühe Säuberungswelle in der Landesbauernschaft fand rasch ein Ende. In den Hungerjahren musste die Ernährungsverwaltung dringend wieder aufgebaut werden – und dazu wurde fachlich qualifiziertes, mit den Aufgaben vertrautes Personal benötigt. Nun holte die britische Militärregierung aus den Lagern einen Teil der internierten Beamten des Reichsernährungsministeriums bzw. des NS-Reichsnährstandes. Ähnlich versandete die Entnazifizierung auch in den anderen Behörden und Einrichtungen im Land.

Die "Mitläuferfabrik": Routine der Massenabfertigung

"Im ständigen Zwiespalt zwischen moralischer Prinzipientreue und pragmatischen Kompromissen uferte die Überprüfung bald zu einer nur routinemäßig zu erledigenden Massenabfertigung aus", so urteilt der Historiker Anselm Faust über die Entnazifizierungsverfahren in Nordrhein-Westfalen, die später treffend als "Mitläuferfabrik" (Lutz Niethammer) bezeichnet worden sind.

"Die Entnazifizierung liegt also in den letzten Zügen", resümierte bereits im Oktober 1950 Rudolf Amelunxen, 1946/47 der erste Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens und später Justizminister. Er, einer der entschiedensten Befürworter der Entnazifizierung, mußte 1950 einräumen: "Ist die Entnazifizierung tot, wird niemand ihr nachtrauern."

Wenig später setzte der Landtag in Düsseldorf einen vorläufigen Schlusspunkt. Er verabschiedete am 5. Februar 1952 ein Gesetz, deßen Titel alles sagt: "Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen".


Titelseite des Buches von Ernst von Salomon "Der Fragebogen" (1951).


Der erste Bestseller

Im Herbst 1951 erschien im Hamburger Rowohlt-Verlag ein Buch mit dem Titel "Der Fragebogen". Es wurde der erste Bestseller der jungen Bundesrepublik. Das lag vor allem am Thema, das es aufgriff: die "Entnazifizierung". Autor wr Ernst von Salomon, ein rechtsnationaler, wegen Mordes und wegen Beihilfe zum Mord mehrfach vorbestrafter ehemaliger Offizier und Filmautor; unter anderem war er wegen seiner Beteiligung an der Ermordung des Außenministers Walter Rathenau verurteilt worden.
In seinem Buch attackierte er die bürokratische, stark formalisierte Durchführung der Entnazifizierung, die nach seiner Meinung an den verwickelten Biografien der "Belasteten" vorbeigehe. Ähnliches hatte auch der katholische Publizist und NS-Gegner Eugen Kogon kritisiert, unter anderem in den von ihm herausgegebenen "Frankfurter Heften". Doch es war bezeichnend für das inzwischen gewandelte geistige Klima der Nachkriegsjahre in Westdeutschland, dass nicht der Widerständler und ehemalige KZ-Häftling Kogon, sondern von Salomon ein millionenfaches Lesepublikum fand.