Jüdisches Landleben: Legenden, Lügen, Vorurteile

Enniger 1873: Pogromstimmung im Dorf

1873 kam es in Enniger zu "Crawallen" gegen die jüdische Gemeinde, die am Ende das Dorf verließ. Als letztes ging der zu Unrecht eines Mordes verdächtigte Händler, der einen berühmten Namen trug.

Am 22. April 1873 wurde in Enniger im Münsterland eine 32-jährige Frau namens Elisabeth Schütte von einem Unbekannten überfallen, vergewaltigt und ermordet. Die Tote wurde erst am nächsten Tag entdeckt.

Wenige Monate später fiel der Tatverdacht auf einen jüdischen Kaufmann im Dorf, schließlich auf die jüdische Gemeinde. Die Staatsanwaltschaft in Münster wies diesen Verdacht als abstrus zurück. Doch es war zu spät. Im Dorf flogen Steine – zuerst gegen die Synagoge, dann gegen Menschen. Am Ende fielen Schüsse.

Die Ermittlungen des Amtmanns

Nach dem Mord hatte die aufgebrachte Landbevölkerung von Enniger und Umgebung rasche Erfolge bei der Tätersuche erwartet – vor allem vom zuständigen Amtmann Brüning (1812-1895). Er war Inhaber eines Schulzenhofes in Enniger, Bürgermeister im Dorf und seit 1840 Amtmann, übte also die Polizeigewalt im Amtsbezirk Vorhelm aus.

Von Beginn an allerdings hatte Brüning hilflos und zögerlich agiert. Spuren der Tat waren nicht rechtzeitig gesichert, Hinweise nicht verfolgt, Unschuldige verdächtigt worden. Währenddessen nahmen die Gerüchte in Enniger und den umliegenden Bauerschaften von Tag zu Tag zu, ohne dass ihnen jemand widersprach.

Im Sommer 1873 erfuhr Brüning, dass der jüdische Kleinhändler Herz Spiegel aus Enniger „die Klagelaute der Ermordeten vernommen haben wollte“. Was Spiegel als Zeuge vortragen wollte, wurde binnen kurzem zu einem Verdacht gegen ihn gewandt. Das wiederum hatte schwerwiegende Folgen: für den Handelsmann persönlich, für seine Familie, für die kleine jüdische Gemeinde im Dorf – und letztlich auch für die Mehrheitsbevölkerung in Enniger.

Dabei schien zunächst alles in eine andere Richtung zu laufen. Eine richterliche Voruntersuchung im Sommer 1873 erbrachte nicht den Hauch eines Hinweises, dass Spiegel die Tat begangen haben könnte. Zwei Tage vor Weihnachten 1873 schließlich stellte der Staatsanwalt Gravert in Münster fest, „dass alle bisher gegen H. Spiegel zur Anzeige gekommenen Verdachtsmomente höchst unbedeutend sind und meines Erachtens mehr begründete Umstände gegen die Täterschaft des Spiegel sprechen“.

Ausschreitungen zum Namenstag

Zu diesem Zeitpunkt aber war die Wut der Dorfbewohner gegen ihre jüdischen Nachbarn längst entfacht. Bereits am Abend des 18. November war es in Enniger „zu einem Volksauflauf gegen die Juden“ gekommen, wie Amtmann Brüning berichtete. Die Beteiligten pöbelten und schlugen Krach, sie zündeten Feuerwerk und lärmten mit Böllern. Herz Spiegel wurde aufgegriffen und angepöbelt. Nach mehreren Faustschlägen und einem Messerstich ins Bein gelang es ihm zu entkommen.

Die Häuser anderer Juden in Enniger wurden mit Steinen beworfen. Selbst das Gotteshaus ließ der Mob in dieser Novembernacht 1873 nicht aus: Unbekannte schleuderten Steine auch gegen die kleine, erst 1870 erbaute Dorfsynagoge. Sämtliche Glasfenster wurden zerstört. Und das war erst der Anfang.

Der Tag dieser Ausschreitungen war kein Zufall, sondern mit Bedacht gewählt, vermutlich sogar sorgsam geplant. Denn der 18. November war der Vorabend des Namenstages der ermordeten Elisabeth Schütte.

In katholischen Gegenden wie dem Münsterland wurde der Namenstag traditionell gefeiert. An Tagen wie „Peter und Paul“, „Bernhard“, „Maria“ oder „Elisabeth“ war das halbe Dorf unterwegs, um die jeweiligen Personen mit diesem Vornamen aufzusuchen und zu feiern. Das Namenstagsfest gründete auf der starken Rolle der Heiligenverehrung und zählte zum Kernbestand katholischer Volksfrömmigkeit, während es im Protestantismus kaum und im Judentum gar nicht bekannt war. Das gewählte...


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