Seit Anfang des 19. Jahrhunderts, in Teilen auch erst seit 1847, besaßen Juden in der preußischen Provinz Westfalen volle staatsbürgerliche Rechte. Seitdem erst durften sie, wie alle anderen Bürger, sich niederlassen, Handel und Gewerbe treiben und sich frei bewegen. Wie alle anderen, so durften sie jetzt Häuser und Grundbesitz erwerben.
Damit standen ihnen prinzipiell alle Wege offen, auch Ackerbau und Viehhaltung zu betreiben. Doch der Anteil jüdischer Landwirte blieb gering. Zunächst aber einige Zahlen zur Orientierung:
In PREUSSEN INSGESAMT lebten um 1900 rund 416.000 Jüdinnen und Juden. Das entsprach einem Anteil von etwa 1 % der Gesamtbevölkerung. Etwa zwei Drittel dieser Minderheit lebten von Handel und Kredit, ein Zehntel von Handwerk und Industrie, nur etwa 1,5 % im Haupterwerb von der Landwirtschaft.
In der PREUSSISCHEN PROVINZ WESTFALEN lebten um 1900 rund 21.000 Jüdinnen und Juden. Das entsprach einem Anteil von etwa 1 % der Gesamtbevölkerung in der Provinz. Bis 1925 wuchs die Gesamtbevölkerung in Westfalen stark, während die Größe der jüdischen Minderheit sich kaum veränderte. Ihr Anteil in Westfalen lag um 1925 nur noch bei etwa 0,5 %.
Etwa zwei Drittel von ihnen lebte in den großen und mittelgroßen Städten Westfalens, ein Drittel in kleinen Landgemeinden. Vergleichsweise hoch war ihr Anteil in einzelnen Landgemeinden Ostwestfalens, etwa im Mindener Land sowie in den Kreisen Höxter und Warburg mit Orten wie Peckelsheim (um 1900: 5,5 %), Pömbsen (um 1900: 6,5 %)
Im Vergleich zur Mehrheit in Westfalen wies die jüdische Minderheit weitere wirtschaftliche und soziale Besonderheiten auf, die aus ihrer geschichtlich bedingten Sonderstatus zu erklären sind. Der Historiker Diethard Aschoff hat für die Zeit um 1900 folgende Merkmale herausgearbeitet:
1. Mit dem Ruhrgebiet war Westfalen um 1900 die am stärksten industriell geprägte Provinz Preußens. Mehr als jeder zweite Beschäftigte arbeitete hier in Industrie oder Gewerbe (50,5%). In der jüdischen Minderheit Westfalens hingegen lag der Anteil bei nur einem Fünftel (20,1 %).
2. Der Anteil der Selbständigen lag bei den Juden in Westfalen wie auch in ganz Preußen mehr als doppelt so hoch wie bei den Nichtjuden. In Westfalen betrug das Verhältnis laut Aschoff 54,7 % zu 24,5 %.
3. In Gastronomie, Handel und Verkehr verdiente kaum ein Zehntel (9,5 %) der westfälischen Bevölkerung ihr Einkommen, unter den Juden Westfalens hingegen lag der Anteil mit 57,2 % ungewöhnlich hoch.
4. Um 1900 fand mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Westfalens (21,7 %) ihr Einkommen in der Landwirtschaft. Für die Juden Westfalens spielte Landwirtschaft – als Haupteinkommen! – nur eine geringe Rolle (2,7 %). Allerdings: Vor allem im ländlich-kleinstädtischen Milieu besaßen Ackerbau und Viehhaltung als Neben- oder Zusatzeinkommen ein erheblich größeres Gewicht. Sie war Teil einer Subsistenz- und Mischökonomie, wie sie gerade für die Landjuden Westfalens typisch war.
Jüdische Bauern im Vollerwerb
Jüdische Bauern im „Vollerwerb“, um diesen modernen Begriff zu verwenden, bildeten eine verschwindend kleine Gruppe innerhalb der Minderheit der Juden in Westfalen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch es gab sie, und einige Orte, Zahlen und Namen seien an dieser Stelle exemplarisch genannt:
- Felix Löwenstein in Borgholz (bei Beverungen-Dalhausen, Kreis Höxter) wurde „als einer der ersten Juden in Westfalen Landwirt“, so der Befund der Historikerin Margit Naarmann. Nach ihren Recherchen hat Löwenstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ausgedehnte Schafzucht aufgebaut und betrieben.
- 297 Grundbesitzer jüdischen Glaubens soll es in den 1820er Jahren in Paderborn und Corvey gegeben haben, wenn man einem Bericht des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke folgt.
- Im Regierungsbezirk Arnsberg lebten 1820 rund 3500 Jüdinnen und Juden, unter ihnen vier jüdische Landwirte mit ihren Familien: zwei in Soest, je einer in Brilon und in Arnsberg. Hinzu kamen 31 jüdische „Besitzer von Ackerwirthschaften“, die ihre Landwirtschaft mit Handel und Kleingewerbe verbanden – „und dabey den Ackerbau“, heißt es etwa über einen solchen Händler-Landwirt in Attendorn.
Unter anderem in Hagen und in Iserlohn lebten außerdem mehrere jüdische Eigentümer von Bauernhöfen, die sie unter großherzoglich-bergischer Herrschaft erworben und nun (1820) verpachtet hatten. - In Peckelsheim, Kreis Höxter, sind im 19. Jahrhundert sechs jüdische Landwirte namentlich bekannt, deren Betriebe „zum Teil mehrere hundert Morgen“ groß gewesen sein sollen.
- In Lübbecke bewirtschaftete die jüdische Familie Rosenberg um 1850 ein Hofgut mit 10,6 ha Landbesitz. Über eine ähnliche Flächenausstattung verfügte die jüdische Eigentümerfamilie des „Cornberg’schen Hofes“, ebenfalls in Lübbecke.
Gut Edelborn bei Büren
Der Bürener Kaufmann Heinemann Aronstein baute ab 1852 südlich von Büren bei Siddinghausen, Kreis Paderborn, ein eigenes Gut auf. Die Landausstattung stammte aus erworbenem Besitz und Zuteilungen nach Separationsverfahren (Vorläufer der späteren Flurbereinigung). Nach Tausch, Teilung und Erwerb von Flurstücken verfügte das Gut um 1880 über 67 ha Eigentum. Aronstein nannte es "Gut Edelborn" – in diesem Namen setzte er seiner Frau Edel Aronstein, geb. Herzsohn, ein Denkmal.
Nach dem Tod des Vaters 1878 übernahm der Sohn Hermann Aronstein das Gut, das er gemeinsam mit seiner Frau Julia geb. Heimann von Büren aus bewirtschaftete. Da nach seinem Tod 1909 keines seiner fünf Kinder dieses Erbe anzutreten bereit war, wurden der Landbesitz parzelliert und verkauft, ein Restgut blieb erhalten.
Landwirt Rosenthal in Geseke
Auf dem jüdischen Friedhof von Geseke erinnert ein Gedenkstein an den Landwirt Hermann Rosenthal, geboren am 12. März 1854, gestorben am 17. Oktober 1895. Aus der Chronik der Familie erfahren wir, dass Hermann „der einzige jüdische Landwirt in Geseke“ gewesen sei. Sein Vater Emanuel Rosenthal war Getreidehändler, bewohnte mit seiner Familie ein Haus am Geseker Hellweg und hatte laut Chronik „zahlreiche Aecker und Gärten“ erworben.
Im Zuge eines Flurbereinigungsverfahrens, damals Separation genannt, wurden sie ab etwa 1870 zusammengelegt. Der entstandene Hof sei von Emanuel Rosenthal „fleißig bewirtschaftet“ worden, wie es in der Chronik heißt. Und weiter: „Emanuel erfreute sich zeitlebens des allerbesten Rufes, wie noch im Jahre 1933 von dem Ortsältesten, dem 90-jährigen Landwirt Josef Lappe zu Geseke, Viehstraße, bestätigt wurde.“
Emanuel Rosenthal starb 1879, seine Ehefrau zwei Jahre später. Seine Söhne Karl und Hermann traten das Erbe des Vaters an. Während sich Karl auf den Getreidehandel konzentrierte, kümmerte sich Hermann um die Landwirtschaft, die er durch Landkäufe erweiterte. In der Chronik der Familie heißt es über ihn: „Nach Auskunft des bereits vorerwähnten Ortsältesten Lappe sowie auch des Landwirts Lappe jun. hat Hermann, der der einzige jüdische Landwirt in Geseke gewesen sei, seinen Acker selbst bestellt und seinen umfangreichen Besitz mit seinen Knechten tadellos in Ordnung gehalten. Hermann sei sehr geachtet und beliebt und auch Vorstandsmitglied des Landwirtschaftlichen Ortsvereins gewesen. Für ein ihm, Lappe, gewährtes Darlehn habe er keine Zinsen genommen.“
Gut Baum bei Ergste
Philipp Baum, Viehhändler in Dortmund, betätigte sich als aktiver Landwirt auf seinem 1902 erworbenen Gut in Schwerte-Ergste, ehe er es im Februar 1930, ein Jahr vor seinem Tod, verpachtete. Zu diesem Zeitpunkt gehörten zum Gut insgesamt 111 ha Land, davon 22 ha Wald und 25 ha Ackerland, der Rest diente als Grünland. Laut "Niekammer's Güteradressbuch" für Westfalen von 1931 standen 8 Pferde, 45 Stück Rindvieh, davon 26 Milchkühe, sowie 19 Schweine in den Ställen des Gutes. Mit diesen Betriebsdaten zählte das "Gut Baum“, wie es allseits genannt wurde, zu den größten im damaligen Landkreis Iserlohn.
Hugo Sternberg, der als Viehhändler in Schwerte lebte und wie Baum zur jüdischen Gemeinde gehörte, erinnerte sich später:
„Herr Baum hatte eine große Viehzucht und einen ausgedehnten Viehhandel und hat deshalb einen erheblichen Teil des Gutes als Weideland benutzt. Daneben wurden jedoch Getreide, Kartoffeln, Hackfrüchte, Futter etc. angebaut. Das gesamte Gut bestand aus gutem, fruchtbarem Boden, der sowohl als Ackerland als auch als Weideland geeignet war. Herr Baum hatte auch eine umfangreiche Milchwirtschaft auf dem Gut betrieben.“ (Über das weitere Schicksal des Gutes Baum berichten wir in diesem Online-Schwerpunkt im Beitrag über die NS-Enteignung, auch "Arisierung" genannt.)
Deutlich häufiger zu finden waren gerade auf dem Land die – statistisch schwer zu erfassenden – jüdischen Landeigentümer und -pächter im „Neben-“ oder „Zuerwerb“. Deren genaue Zahl ist kaum bekannt und rückwirkend auch kaum zu ermitteln. Sicher ist: Sie war in Westfalen größer, als es die preußischen Statistiken erahnen lassen.
Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.