Schmutzmatten liegen auf dem Boden. Elektrokabel ragen aus der Wand, die auf den Putz und auf eine Tapete wartet – und auch auf den Elektriker, der die Lichtschalter und die Steckdosen anschließen muss. Die schweren alten Zimmertüren und die Zargen müssen noch geschliffen und neu lackiert werden. „Das wird alles in den nächsten Tagen fertig, bald können die Büros bezogen werden“, sagt Ludger Vollenkemper gelassen, während er gemeinsam mit Heinrich Splietker durch den Flur geht. Die Küche ist bereits fertig eingerichtet.
Nach wenigen Schritten stehen die beiden im hinteren Teil des alten Fachwerkhauses. Das Tennentor verrät, dass hier einmal die Ernte eingefahren wurde. Heute fällt viel Licht durch eine neue Glasfront. „Die Handwerksarbeiten sind fast fertig“, freuen sich die beiden. „Das kann hier bald losgehen.“
Hier – das ist St. Vit. Das Dorf mit seinen 1500 Einwohnern gehört zu Rheda-Wiedenbrück, hat aber viel von seiner ländlichen Geschlossenheit bewahrt. Vollenkemper und Splietker leiten den Verein „Dorf aktiv e. V“, den es seit Sommer 2015 in St. Vit gibt. Er wurde ins Leben gerufen, um das Küsterhaus, ein gut 350 Jahre altes Fachwerkhaus an der barocken Dorfkirche, zu erhalten und neu zu nutzen.
„Bestellt doch einfach einen Bagger, schiebt den Bau zusammen und dann weg damit“ – das bekamen die Vereinsgründer seinerzeit zu hören. Tatsächlich war das Küsterhaus heruntergekommen und musste dringend gesichert werden. „Die Fundamente und Schwellenbalken waren marode, eine Seitenwand hatte sich stark nach außen verschoben – ich weiß nicht, wie lange das noch gehalten hätte“, berichtet Heinrich Splietker. Aber abreißen?
„Für sich und die Seinen“
„Das wäre für uns niemals infrage gekommen“, sind sich Vollenkemper und Splietker einig. Schließlich handelte es sich nicht um irgendeinen Altbau irgendwo am Ortsrand, sondern um ein Vierständer- Fachwerkhaus direkt neben der Kirche – und noch dazu um ein Gebäude, das unter Denkmalschutz steht. Der „Vorschlag“ mit dem Bagger hätte also auch gegen Recht und Gesetz verstoßen.
Etliche Küster-Generationen haben in dem Fachwerkbau gelebt, in dem auch die erste Dorfschule untergebracht war. Vor gut hundert Jahren wurde der Bau zur Kirche hin um ein Wohnhaus in Massiv-Bauweise erweitert. Zuletzt hatte das Küsterhaus lange leer gestanden. Nach längeren Diskussionen im Ort hat es die Kirchengemeinde schließlich dem Verein „Dorf aktiv e. V.“ in Erbpacht für zunächst 49 Jahre überlassen. Von Beginn an war klar: Die Mitglieder wollten dort kein idyllisches Gestern beschwören. „Wir verstehen uns nicht als „Küsterhaus-Verein“, unterstreicht der Vorsitzende Ludger Vollenkemper, „sondern wir wollen das Miteinander im Dorf fördern.“
Vollenkemper weist auf den Balken über dem Tennentor. „Unter Franz Wilhelm, Bischof von Osnabrück, hat die Pfarrei dieses Haus für sich und die Seinen erbaut“, ist dort in lateinischer Schrift zu lesen. „Für sich und die Seinen – das wollen wir hier in zeitgemäßer Form wieder erreichen“, sinniert Vollenkemper, „ein Haus für das Dorf und seine Einwohner“.
In der Satzung von „Dorf aktiv e. V.“ wurde als Ziel festgelegt, die Dorfentwicklung, Zukunftsfähigkeit und Lebensqualität zu fördern. Das Haus sollte also keine Heimatstube werden, sondern für Bildung, Kunst und Kultur zur Verfügung stehen, außerdem als Ort der Begegnung für alle Dorfbewohner, aber auch als Ort der Dorfgeschichte und zur Beherbergung von Gästen.
Was tun ohne Linienbus?
St. Vit ist Ortsteil von Rheda-Wiedenbrück. Aber abgesehen von Schulbussen fährt kein Linienbus durch das Dorf. Deshalb hat der Verein „Dorf aktiv“ – neben der Renovierung des Küsterhauses – zwei Ideen in die Tat umgesetzt:
● 2018 wurden mit Unterstützung des Kreises zwei Elektroautos angeschafft. Sie werden mit Ökostrom der regionalen Stadtwerke gespeist. Wer ein Dorfauto nutzen will, zahlt 70 € als Jahresgrundpreis sowie pro angefangene Stunde 3,50 € – „nur die Zeit zählt, nicht die Entfernung“, heißt es im Infoblatt. Über eine digitale Plattform wird die Buchung der Wagen abgewickelt. Nach Angaben des Vereins nutzen 50 Personen die beiden Dorfautos. Sie haben seit September 2018 zusammen 23 .000 km zurückgelegt.
● Außerdem hat der Verein einen ehrenamtlichen Fahrdienst mit derzeit 17 Freiwilligen eingerichtet. Wer von A nach B muss, ruft am Vortag an und teilt seinen Fahrwunsch mit. Ein Mitglied des Fahrdienstes bringt die Person ans gewünschte Ziel und holt sie dort wieder ab. Die Organisation funktioniert per WhatsApp-Gruppe. Ein fester Fahrpreis wird nicht erhoben. Wer kann und mag, kann sich mit einer Spende an den Kosten beteiligen.
Viele Hände, schnelles Ende
Um die Renovierung und den Umbau des Küsterhauses zu finanzieren, setzte der Verein auf Spenden und Einnahmen aus Benefizveranstaltungen. Gut 200.000 € kamen so bis heute in die Kasse.
Schub erhielt das Projekt durch Fördermittel von der Stadt und vom Land, etwa zur Dorferneuerung und zur Denkmalpflege. Hinzu kamen Zuwendungen der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der NRW-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege.
„Jedes Mal, wenn etwas hereinkam, konnten wir weitermachen und investieren“, berichtet Heinrich Splietker. Bis heute sind rund 780.000 € in die Restaurierung und den Umbau geflossen.
Auch viele örtliche Firmen haben den Verein unterstützt. Hinzu kam und kommt die Eigenleistung der Mitglieder. „Viele Hände, schnelles Hände – dieses Motto stimmt wirklich“, schmunzelt Heinrich Splietker. Der Verein, so schätzt er, könne sich auf rund 50 aktive Helfer stützen.
Büros, Gästewohnung, Treff
Nach gut fünf Jahren Arbeit ist das Küsterhaus fast fertig. Im jüngeren Teil, dem ehemaligen Wohnhaus, führt der Eingangsflur zu zwei Räumen, die als moderne Büros hergerichtet und an die Kirchengemeinde vermietet sind. In der darüberliegenden Etage bietet ein rund 20 m2 großer Raum Platz für das Dorfarchiv.
Einige Stufen höher entsteht eine Ferienwohnung, die der Verein voraussichtlich ab Ende des Jahres vermieten kann. „Als mögliche Gäste denken wir an Wanderer und Fahrradtouristen, aber auch an Angehörige von Familien im Dorf“, berichtet Vollenkemper.
Die Räumlichkeiten im älteren Fachwerkteil können vielfältig genutzt werden: als Galerie und Kino, als Ort für private oder öffentliche Feiern, für kleinere Konzerte oder Lesungen sowie vor allem als Dorftreff für Gruppen. Einmal im Monat soll ein offenes Sonntagstreffen stattfinden, im Sommer etwa einmal im Monat auch eine Gartenwirtschaft.
Wegen Corona musste das für September groß geplante Eröffnungswochenende gestrichen werden. „Wir beginnen nun in kleinen Schritten mit überschaubaren Veranstaltungen“, berichtet Ludger Vollenkemper, und Heinrich Spietker setzt hinzu: „So können wir sehen, wie sich das Haus bewährt und wie sich eine Nutzung langsam entwickeln kann.“
Eröffnung in der Corona-Zeit
Ein Probelauf unter freiem Himmel und Corona-Bedingungen fand bereits vor einigen Wochen statt. Das Konzert einer Bluesgruppe auf der Terrasse lockte rund 80 Besucher an. So wird es wohl erst einmal weitergehen. Ein Musikkonzert hier, eine kleine Ausstellung dort, ein lockeres Treffen am Wochenende – „in diesem Jahr wird es wohl nur Draußen-Veranstaltungen geben können“, erwartet Vollenkemper. Für das Frühjahr sind Eröffnungswochen mit etwa zehn Veranstaltungen geplant. Ob das klappt, kann niemand vorhersagen.
Der Trägerverein „Dorf aktiv e. V.“ ist auf mittlerweile fast 200 Mitglieder gewachsen – ein Zeichen stark gewachsener Zustimmung im Dorf. Von einem Bagger redet niemand mehr.
Die Internetseite des Trägervereins: www.dorfaktiv.de
In lockerer Folge stellen wir „Dorfideen mit Weitblick“ vor – ein Kooperationsprojekt von Wochenblatt und Westfälischem Heimatbund, gefördert von der NRW-Stiftung Naturschutz,Heimat- und Kulturpflege und der Provinzial Versicherung.