Um 1900 lebte mehr als jeder fünfte Erwerbstätige in Westfalen von der Landwirtschaft. In der Minderheit der Juden Westfalens hingegen spielte die Landwirtschaft nur eine geringe Rolle: Von allen jüdischen Erwerbstätigen in Westfalen lebten nur 2,7 % von Ackerbau und Viehhaltung. Warum war das so? Lag es, wie die Antisemiten der Zeit behaupteten, am fehlenden Willen "des Juden" zur Handarbeit auf dem Felde und im Stall?
Zunächst einmal: Der jüdischen Minderheit war diese Tätigkeit in Westfalen flächendeckend überhaupt erst seit 1847 erlaubt. Auch Land zu besitzen war ihnen seit Jahrhunderten verwehrt und wurde ihnen erst im 19. Jahrhundert ermöglicht. Traditionen der Landwirtschaft und Erfahrungswissen fehlten ihnen also und waren nicht binnen weniger Jahre aufzubauen. Den allermeisten fehlte in den Jahrzehnten nach den Emanzipationsgesetzen auch schlicht das Kapital, um Grund und Boden für einen vollständigen bäuerlichen Betrieb zu pachten oder gar zu erwerben.
"Ein Mensch, der Ackerbau und Handwerk meidet"
Für einen Neubeginn ausgerechnet in der Landwirtschaft waren die Zeiten überdies ungünstig. Schwere Agrarkrisen belasteten vor allem in den Jahren von 1817 bis 1847/50 die Bevölkerung gerade im ländlichen Westfalen, verschärften die Massenarmut und lösten flächendeckende Auswanderungswellen nach Amerika aus. Warum sollten sich diesem krisengeschüttelten Wirtschaftszweig, der zum Einstieg nicht gerade einlud, ausgerechnet Juden zuwenden? „Ihr Instinkt und gesunder Menschenverstand“, so urteilte der Historiker Arthur Prinz, „bewahrten sie davor, in einer Zeit, in der die deutsche Landwirtschaft den großen bäuerlichen Nachwuchs nicht auf dem Lande zu halten vermochte, sondern Millionen von Menschen teils durch Auswanderung, teils durch Abwanderung in die Städte verlor, gegen den Strom zu schwimmen.“
Hinzu kamen Anfeindungen und Beschränkungen von außen – und das heißt zuallererst: von staatlicher Seite. Der preußische Oberpräsident Westfalens, Ludwig Freiherr von Vincke, führte in seiner berüchtigten Judendenkschrift vom 2. November 1826 unter anderem das alte Vorurteil an, „der Jude“ sei ein Mensch, „der den Ackerbau und das Handwerk meidet, weil jede ruhige anhaltende und körperliche Anstrengung erfordernde Arbeit, die nur langsam und mäßigen Gewinn verspricht, ihm zuwider ist“.
Andererseits wertete Vincke schon die wenigen agrarischen Aktivitäten der Juden auf dem Land als Bedrohung der Landwirtschaft, dem „solideste(n) Fundament des Gebäudes der öffentlichen Wohlhabenheit“, wie Vincke schrieb. Dieses „Gebäude“ sah er bedroht – durch die Juden. Dass die Verschuldung der Bauern gewachsen, die Zahl der Konkurse ihrer Hofstätten stark gestiegen war, führte der Oberpräsident pauschal auf die Aktivitäten allein der jüdischen Vieh-, Getreide- und Geldhändler zurück. Konkrete Nachweise für diese Behauptungen blieb Vincke schuldig. Sie sind weder von ihm noch anderen antijüdisch eingestellten leitenden Beamten jemals vorgelegt worden.
Konkurrenz des ländlichen Adels
Einflussreiche Zeitgenossen widersprachen Vincke. Der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Harkort etwa urteilte, nicht die „mosaischen Juden“ runierten die Bauern, sondern „die Juden mit Sporen und Stiefeln“ – gemeint war der ländliche Adel in Westfalen. Andere Zeitgenossen, auch solche adliger Herkunft wie Vincke, sahen das ähnlich. Sie wiesen auf die konfliktträchtige Konkurrenz zwischen potenziellen jüdischen Landkäufern und adligen Gutsbesitzern hin.
Oberpräsident Vincke allerdings setzte sich durch. Auf seine Initiative geht die berüchtigte Kabinettsorder vom 20. September 1836 zurück, die es nirgendwo sonst in Preußen gab: Sie galt ausschließlich für die jüdische Bevölkerung in den westfälischen Kreisen Büren, Höxter, Paderborn und Warburg und untersagte ihnen, Bauernhöfe bzw. Grundstücke zu erwerben, „wenn dieselben nicht selbst und mit jüdischem Gesinde bewirtschaftet werden“.
Vereinzelt Aufnahme in Landwirtschaftlichen Vereinen
Diese Kabinettsorder wurde 1847 aufgehoben. Ihr Ungeist aber wirkte nach. Der Zugang zu landwirtschaftlicher Ausbildung und Förderung etwa, wie sie die seit den 1830er Jahren entstehenden, vom Adel und höherer Beamtenschaft dominierten Landwirtschaftlichen Kreisvereine systematisch ausbauten, blieb den wenigen agrarisch tätigen Juden verschlossen.
Während sie in den Viehhandelsorganisationen in Westfalen seit Ende des 19. Jahrhunderts ein starkes Gewicht besaßen, waren Juden in den halbstaatlichen landwirtschaftlichen Vereinen kaum vertreten. Zu den wenigen zählen unter anderem Jacob Loeb, Gutsbesitzer in Hamm, der Kaufmann Marcus Loewenstein in Münster oder auch der "Oeconom" Levi Lilienthal aus Steinheim. Dass Lilienthal sogar 1837 beim Aufbau eines solchen Kreisvereins aktiv sein konnte und zum Gründungsvorstand zählte, blieb für Westfalen eine ebenso einzigartige wie bemerkenswerte Ausnahme.
Ablehnung im "Westfälischen Bauernverein"
Neben diesen halbstaatlichen Vereinen entstanden seit den 1860er Jahren in Westfalen die ersten staatsunabhängigen, bäuerlich-landwirtschaftlichen Interessenverbände. Der Beitritt aber blieb den wenigen jüdischen Landwirten bzw. in Landwirtschaft und Viehhandel aktiven Juden Westfalens verwehrt. Der Westfälische Bauernverein etwa, 1862 im Münsterland gegründet und seit 1871 landesweit aktiv, hatte in seiner Satzung festgelegt:
„Der Aufzunehmende muss einer der beiden christlichen Konfessionen angehören, und zwar nicht bloß dem Namen nach.“
Diese ablehnende antijüdische Haltung entsprach der ständisch-konservativen Position des Verbandsgründers, des Zentrumspolitikers und „Bauernkönigs“ Burghard von Schorlemer-Alst, und seine Stellvertreters Johannes Breuker. Den jüdischen Landwirten, Viehhändlern und „Nebenerwerbsbauern“ war damit die Mitgliedschaft und letztlich auch die quasi-offizielle Anerkennung ihrer christlichen Berufskollegen verwehrt.
„Große Schacherjuden als Volksbeglücker“
„Buer et is Tiet! Rechte und Pflichten des Bauernstandes oder: Bauer muß Bauer sein und bleiben“ – so lautet der Titel der 1869 erschienenen Programmschrift des Kirchhellener Landwirts Johann Breuker (1817-1885). Darin kritisiert er die seinerzeit heraufziehende Industriegesellschaft, den modernen (Wirtschafts-)Liberalismus und das kapitalistische Wirtschaftssystem, das alle Stände und Traditionen hinwegfege und auch vor bäuerlichem Erbe nicht haltmache. Vertreter und Nutznießer des neuen Wirtschaftssystems seien „die“ Juden, so Breuker:
„Die Macht des Kapitals soll ganz frei und jede Schranke seiner Entwicklung niedergebrochen werden. Man hat die früheren Stände aufgelöst, alle Bande (…) zerrissen und so die ganze menschliche Gesellschaft in hilf-, rath- und thatlose Einzelwesen aufgelöst, den Wucherern und Juden gehörig“.
Antijüdische Vorurteile, gespeist aus religiösen wie aus wirtschaftlichen Motiven, tauchen wiederholt in der sozialreformerischen Schrift Breukers auf. So stellt er seinen bäuerlichen Lesern den liberalen Reichstagsabgeordneten Eduard Lasker (1829-1884) nur als „der Jude Lasker“ vor. Und an anderer Stelle fragt er rhetorisch:
„Wäre es zum Wohle des ganzen Staates nicht besser, den Bauern behilflich zu sein, Mittel und Wege zu zeigen, daß sie ihre Freiheit und Selbständigkeit im eigenen wie im Interesse der ganzen menschlichen Gesellschaft gebrauchen, als daß man ihnen behülflich ist, dieselbe im Interesse der großen Schacherjuden mißbrauchen zu können, daß diese, statt der Bauern, die Ernährer und Volksbeglücker werden?“
Wenige Seiten weiter malt Breuker erneut das Schreckbild an die Wand, dass der Bauernstand zurückgesetzt und abhängig werde „von Wucherern und Juden, daß diese seine Stelle einnehmen können, gerade als wenn die Interessen des Kapitals die einzigen wahren Interessen der Menschheit sind“. Und weiter: „Wird das Volk dann besser ernährt werden, wenn diese aus großen Gläsern die Schweißtropfen der zu Pächtern und Tagelöhnern herabgesunkenen Bauern trinken?“
Aus dieser Perspektive hielt Breuker den Zusammenschluss der christlichen Bauern beider Konfessionen für„absolut notwendig“. Es sei eine Übermacht des Großkapitals zu verhindern, damit nicht am Ende der Grundbesitz „auf seine selbständige Stellung, seine Freiheit verzichten und, den Wucherern und Juden gehörig (…), in das Proletariat herabsinken muss“.
Fundamentale Kapitalismuskritik, antijüdisches Ressentiment, religiös wie wirtschaftlich motiviert, und eine angedeutete Verschwörungserzählung sind in den zitierten Ausführungen untrennbar miteinander verschmolzen. Aus dieser Sicht konnte es für Breuker weder jüdischen Landwirte geben noch konnten jüdische Landeigentümer Mitglieder des von ihm konzipierten christlichen Bauernvereins werden. Juden standen aus seiner Sicht außerhalb der von ihm skizzierten christlich-ständischen Gesellschaft: „Die Geistlichkeit, der Adel, der Bürger- und Handwerkerstand, alle werden sich um unsere Freundschaft gar sehr bemühen und Schutz suchen beim mächtigen Bauernstande, sich an ihn anlehnen und gemeinschaftlich mit ihm protestieren wollen gegen den Alles überwuchernden und auswuchernden antichristlichen Zeitgeist.“
Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.