Auf dem Straßenasphalt sind gelbe Kreuze gemalt, jedes kaum größer als ein Wochenblatt-Heft. Am Boden sind die Kreuze rasch zu übersehen – und noch rascher zu überqueren. Das war einmal anders: „Hier stießen zwei Staaten aneinander, mit Zaun, Stacheldraht und Schlagbäumen. Hier war alles voller Polizei und Zollbeamter!“ So erzählt es Werner Brand aus Suderwick, während Autos, Fahrräder und Fußgänger die gelben Kreuze auf dem „Heelweg“ passieren, wie die Straße auf Niederländisch heißt. „Hellweg“ heißt sie auf deutsch.
Der Fuß der Königin
Die eine Bordsteinkante dieser Straße liegt in den Niederlanden, die andere in Deutschland. Als die niederländische Königin Beatrix hier zu Gast war, hat sie von Dinxperlo aus einen Fuß „auf deutschen Boden“ gesetzt. Hätte sie den anderen Fuß nachgezogen, wäre das ein Staatsbesuch gewesen – und die Königin hätte ihren Schritt in der Bundeshauptstadt offiziell anmelden müssen.
Viele solcher Grenzepisoden kann Werner Brand erzählen. Er leitet eine Bürgerinitiative, deren Name Programm ist: „Dinxperwick e. V.“ – zusammengesetzt aus den beiden Ortsnamen Dinxperlo und Suderwick. Die Initiative bezeichnet beide Orte als ein „europäisches Dorf“ und kümmert sich seit Jahren auf vielen Ebenen um das Zusammenwachsen, über die Grenze hinweg.
"Trennender war hier die Konfession"
Werner Brand, gebürtig aus dem Hunsrück, kam als Lehrer vor vielen Jahren in diesen westlichsten Zipfel Westfalens. Er hat lange in der Schulabteilung des Kreises Borken gearbeitet. Mit seiner Frau wohnt er am Rand von Suderwick auf einem uralten Bauernhof, einem Erbe aus der Familie seiner Frau.
„Der Hof war einer der sieben ,Prinzenhöfe‘ hier in Suderwick, die einmal dem niederländischen Prinzen von Oranien-Nassau gehört haben.“ Viele Bauern diesseits der Grenze stammen aus den Niederlanden, setzt er gleich hinzu. „Viel trennender als die Staatsgrenze war hier eigentlich die Konfession: protestantisch oder katholisch?“
Heute leben etwa 2000 Menschen diesseits der Staatsgrenze in Suderwick. Etwa 7000 Einwohner zählt Dinxperlo, das fast ein wenig städtisch wirkt mit seinem Marktplatz, zwei Kirchen, einer Polizeistation und einem Museum sowie einer Reihe von Einzelhandelsgeschäften. Amtlich gesehen ist Dinxperlo ein Teil der niederländischen Gemeinde Aalten, Suderwick hingegen ein Ortsteil von Bocholt. Aber nicht nur für Brand ist klar: „Beide Orte gehören zusammen, sie sind ein Dorf.“
Protest gegen Kiesgrabung
Um die Gemeinsamkeiten zu fördern, hat die Bürgerinitiative Dinxperwick viele Ideen entwickelt und mit Heimat- und Geschichtsvereinen, Tourismusverbänden, Kirchengemeinden und anderen Akteuren beiderseits der Grenze in die Tat umgesetzt. Dabei ging es den Gründern der Bürgerinitiative ursprünglich um Natur- und Landschaftsschutz.
Eine Firma vom Niederrhein hatte 2012 Pläne entwickelt, um östlich der Doppelgemeinde auf rund 120 ha Kies abzugraben. „Ein guter Freund von der niederländischen Seite hatte mich auf die Pläne hingewiesen“, erzählt Werner Brand. „Er hatte alle Unterlagen längst in der Hand.“ Die Behörden in den Niederlanden seien „deutlich offener, was den Umgang mit amtlichen Informationen angeht“, urteilt er und erzählt: „Wir wussten von nichts und erfuhren in Bocholt und Münster auch nichts, während die Pläne und Unterlagen in Aalten interessierten Bürgern zugänglich gemacht wurden.“
Die Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze war elektrisiert. „95 % waren gegen den Kiesabbau“, erinnert sich Brand. Binnen Kurzem entstand die binationale Bürgerinitiative mit rund 80 Mitgliedern. Die Initiative wandte sich mit klaren Worten gegen den Kiesabbau. Unterschriftenlisten, Briefe und Eingaben an die Behörden, grenzüberschreitende Proteste und kritische Fragen auf eigens anberaumten Info-Veranstaltungen: All das zeigte Wirkung. Kurz vor Weihnachten 2013 wischte der Regionalrat die Pläne zum Kiesabbau bei Suderwick vom Tisch.
"Wir machen einfach weiter"
Nach diesem Erfolg blieb die Bürgerinitiative zusammen. Brand erinnert sich: „Wir waren uns einig, unsere Energie ins Dorf zu stecken und den Zusammenhalt über die Grenze hinweg zu stärken.“
Der Blick der binationalen Initiative fiel zunächst auf die Familien und Kinder. Suderwick hat schon lange keinen Kindergarten und keine Grundschule mehr. So setzte sich die Initiative für den Bau einer Kindertagesstätte ein, verbunden mit einem Familienzentrum. „Es soll ein Ort sein, an dem sich die Familien ungezwungen treffen und sich austauschen können“, berichtet Brand. Das Familienzentrum mit Kita entsteht derzeit in Trägerschaft der katholischen Pfarrgemeinde St. Georg Bocholt.
Eine weitere Idee geht auf die Anregung Suderwicker Kinder zurück. Nach ihren Wünschen fürs Dorf gefragt, hatten sie unter anderem einen Spielplatz genannt. Mittel aus dem EU-Dorfentwicklungsprogramm „Leader“ machten es möglich, diesen Kinderwunsch zu erfüllen.
Erst vor wenigen Wochen wurde der Spielplatz eröffnet. Eine Schautafel am Eingang und die Spielgeräte greifen die Erinnerung an Ursula Enders auf. Sie war als „Suderwicker Märchenoma“ ortsbekannt und ist vor zwei Jahren im Alter von 92 Jahren gestorben. Die Erinnerung an sie soll auch wachgehalten werden, wenn Dorfbewohner Märchen in deutscher und in niederländischer Sprache vorlesen.
Ausgezeichnet
Die binationale Bürgerinitiative Dinxperwick und der Heimat verein Suderwick werden im November 2020 vom Land NRW mit dem Preis „Europaaktive Zivilgesellschaft“ ausgezeichnet.
Bereits im August 2020 waren der Heimatverein Suderwick und die Bürgerinitiative Dinxperwick mit dem erstmals vergebenen Heimatpreis des Landes Nordrhein- Westfalen gewürdigt worden. Ihr grenzüberschreitendes Engagement sei „ein herausragendes Beispiel für die Völkerverständigung unter dem Dach der gemeinsamen Heimat“, heißt es in der Begründung der Jury. Und weiter: „Wo jetzt ,grenzeloos‘ und ,grenzenlos‘ draufsteht, ist in Dinxperwick tatsächlich ungeteilte Heimat und ungeteiltes Europa drin.“
Die Botschaft der Faltkarte
Eine schlichte faltbare Karte schlägt eine weitere Brücke über die Grenze. „Wir haben versucht, alle Industrie- und Gewerbebetriebe, Geschäfte, Kultureinrichtungen und alle Dienstleister für Soziales und Gesundheit in Dinxperwick zusammenzutragen“, erläutert Werner Brand. Vom Hühnerhof bis zum Dichtstoffe-Hersteller, von der Bäckerei bis zum Brautmodenladen, vom Steuerbüro über Schuster und Schneider bis zum Hundesalon ist alles dabei – „wir haben selbst gestaunt, was da alles zusammengekommen ist“.
Noch detaillierter ist der digitale Wegweiser auf der Internetseite des Vereins. Mit ein paar Klicks sind hier die Namen und Adressen aus Wirtschaft, Soziales, Kultur, Gesundheit und Sport zu finden.
Gemeinsam Freiheit feiern
Die Grenze durchs Zwillingsdorf ist weitgehend verschwunden, aber keineswegs vergessen. Viele Geschichten sind diesseits wie jenseits in Umlauf. Sie zu sammeln und zu präsentieren, war ein weiteres Vorzeigeprojekt der Initiative und der örtlichen Heimatvereine. Die Berliner Künstlerin Kristina Léko hat die Erzählungen der Älteren gesammelt und auf neun zweisprachigen Schautafeln aufgeschrieben. Sie stehen verteilt in Dinxperlo und Suderwick und regen Einwohner und Gäste zur Lektüre und zum Austausch an.
Beide Ortsteile wagten sich auch an eine gemeinsame mehrtägige Veranstaltungsreihe „75 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus“. Kaum eine andere Zeit hat im Verhältnis der beiden Nachbarländer so tiefe Wunden geschlagen wie gerade die deutsche NS-Besatzung und die Kriegsjahre. Umso hoffnungsfroher war das Motto für die Veranstaltungsreihe: „Unsere Freiheit gemeinsam feiern“.
Musik, Tanz, Film und Schauspiel standen auf dem Programm, das von vielen Vereinen und Personen im Zwillingsdorf auf die Beine gestellt worden ist. „Wegen des Corona-Virus musste leider alles abgesagt werden“, bedauert Werner Brand. Die mehrtägige Veranstaltung ist verschoben auf Mai kommenden Jahres. Und Brand setzt zuversichtlich hinzu: „Diese Hürde werden wir auch überwinden. Es wird auf jeden Fall weitergehen in Dinxperwick.“
In lockerer Folge stellen wir „Dorfideen mit Weitblick“ vor – ein Kooperationsprojekt von Wochenblatt und Westfälischem Heimatbund, gefördert von der NRW-Stiftung Naturschutz,Heimat- und Kulturpflege und der Provinzial Versicherung.