Lebensmittelversorgung 1945-1949

Ein Diktator namens "Hunger"

Bitterer Hunger bestimmte den Alltag der Bevölkerung in den frühen Nachkriegsjahren. Mit Importen aus den USA und Großbritannien lebte Deutschland jahrelang "vom Schiff in den Mund".

"Deutsche Bauern! Der Hunger klopft an unsere Tür. Ihr wisst, wie groß die Not in der Stadt ist. Es ist erschütternd, täglich Frauen mit hungernden Kindern zu sehen. Ihr selbst habt eure Pflicht erfüllt. Aber es muss mehr geschehen." Mit diesen Worten begann ein Aufruf, der sich im Juni 1946 an die Bauern im Rheinland und in Westfalen wandte. Sie wurden aufgefordert, "auch das Letzte, irgendwie Entbehrliche an Lebensmitteln" herzugeben, um die Not der Bevölkerung zu lindern. "Es hilft nichts: Auch der Bauer muss sich stark einschränken, damit die Stadt nicht verhungert."

Unterzeichnet war der Aufruf von einer sehr großen Koalition von Verantwortlichen aus Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Landesbauernschaften. Der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings hatte ebenso unterzeichnet wie der Hannoveraner Landesbischof Marahrens, der Sozialdemokrat Kurt Schumacher sowie der CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer, der KPD-Vorsitzende und Essener Oberbürgermeister Max Reimann ebenso wie Dr. Hermann Heukamp, der Präsident der Landesbauernschaft Westfalen.

An erster und oberster Stelle der Unterzeichner stand der Name eines Mannes, der damals für die Ernährungsversorgung verantwortlich war: Dr. Hans Schlange-Schöningen, Leiter des Zentralamtes für Ernährung und Landwirtschaft in der Britischen Zone, von Zeitgenossen auch "Hungerdiktator" genannt.

Den Mangel verwalten

In seiner Behörde, gegründet im Sommer 1945 im westfälischen Dörfchen Obernkirchen bei Minden, liefen die Fäden der Ernährungs- und Agrarverwaltung in der britischen Besatzungszone zusammen. Doch dieser Verwaltung blieb kaum mehr, als den bitteren Mangel an Lebensmitteln zu verwalten, den das Nazi-Regime bei seinem selbstmörderischen Untergang hinterlassen hatte.

Hunger, Hunger, Hunger – damit plagten sich in jenen Nachkriegsjahren Millionen Menschen herum: Erwachsene, Kinder, alte Leute. Ohne diese bittere Erfahrung des scheinbar endlosen Hungers sind viele zentrale Entwicklungen in den 1950er Jahren kaum zu verstehen: die Einführung der Marktordnung für landwirtschaftliche Produkte 1950/51 ebenso wenig wie die anrollende "Fresswelle". Auch die heute so merkwürdig erscheinende Ausstrahlungskraft, die die ersten prall gefüllten Lebensmittel-Kaufhäuser Mitte der 1950er Jahre auf einen Groflteil der Bevölkerung ausübte, hatte ihren Ursprung in der Massenerfahrung bittersten Hungers.

Die geraubten Kriegsimporte der Nazis
Die äußerst lückenhafte Versorgung mit Lebensmitteln in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hatte viele Ursachen. Zu ihnen zählt zuallererst der verlorene Krieg. Diese Feststellung klingt banal, doch dahinter verbirgt sich eines der bis heute wenig bekannten Verbrechen der Nazi-Zeit. Denn in den Kriegsjahren war vor allem die Landwirtschaft im eroberten Polen, in der Ukraine und Russland ohne Rücksicht auf die "slawischen Untermenschen" systematisch ausgeplündert worden. Allein im Wirtschaftsjahr 1942/43 wurden 6 Mio. t Getreide aus den besetzten Gebieten nach Deutschland geholt - die Menge entsprach etwa einem Drittel der heimischen Getreideernte. Ähnlich hoch lag der Anteil bei Fleisch.
Diese geraubten Importe hatten die Ernährung der deutschen "Volksgemeinschaft" sichergestellt.
Als die Einfuhren ab Sommer 1944 weggefallen waren, hatte sich die Versorgung schrittweise verschlechtert. Der totalen militärischen Niederlage im Mai 1945 folgte der ebenso totale Zusammenbruch des Ernährungssystems.

In den Besatzungszonen musste das Ernährungssystem von Grund auf neu aufgebaut werden – und das unter völlig veränderten Bedingungen:

  • Die agrarisch geprägten Ostgebiete des untergegangenen "Deutschen Reiches" waren weitgehend durch den Krieg verwüstet und politisch sowie wirtschaftlich von den westlichen Besatzungszonen abgetrennt. Damit fehlte etwa ein Viertel der früheren landwirtschaftlichen Nutzfläche. Auf der verkleinerten Anbaufläche der vier Besatzungszonen musste etwa die gleiche Bevölkerung ernährt werden.
  • Die Landwirtschaft befand sich in einem denkbar angeschlagenen Zustand. Mangelnde Düngemittel, fehlendes Pflanz- und Saatgut, ein völlig überalterter und meist reparaturbedürftiger Bestand an Landmaschinen und Geräten, von denen ein Großteil noch aus der Kaiserzeit stammte, dazu das fast völlige Fehlen von Importfuttermitteln und auch betriebseigenem Futter: All das drückte auf die Ernteerträge und auf die Viehhaltung.
    Dazu nur zwei Zahlen: Der Rindviehbestand in Westfalen war von 1 Mio. (1939) auf 830.000 Tiere (1947) geschrumpft. Der Schweinebestand war allein in Westfalen von 1,9 Mio. (1939) auf 770.000 Tiere (1947) gesunken. Das waren so wenig Schweine wie seit der Jahrhundertwende nicht mehr.

Kaum anders sah es in den übrigen Regionen Deutschlands aus. Mit dieser dürftigen Landwirtschaft war eine Million zählende Bevölkerung nicht zu versorgen, auch nicht durch eine erstaunlich rasch wieder aufgebaute Ernährungsverwaltung unter dem "Hungerdiktator" Hans Schlange-Schöningen.

Marshallplan und die (fast) vergessenen Lebensmittel

Die Lebensmittelversorgung stand bis 1948 mehrfach vor dem Kollaps. Dass es dazu nicht kam, war allein den Hilfslieferungen aus Großbritannien und aus den USA zu verdanken. Sie hielten die Lebensmittelversorgung in den drei westlichen Zonen Deutschlands aufrecht – dürftig zwar für jeden Einzelnen, aber es reichte.

Mehl, Getreide, Kartoffeln und Hülsenfrüchte, später auch Zucker, Fette und andere Nahrungsgüter im Wert von insgesamt 1,6 Mrd. Dollar wurden bis 1949 in die Westzonen "gepumpt". Das übertraf sogar die Mittel aus dem späteren "Marshallplan", dem US-Investitions- und Wiederaufbauprogramm; durch ihn flossen bis 1952 insgesamt 1,537 Mrd. Dollar nach Westdeutschland.

"Vom Schiff in den Mund"
Während der Marshallplan später zum Mythos verklärt wurde, der die westdeutsche Wirtschaft angekurbelt habe, ist das deutlich größere Ausmaß der Lebensmittellieferungen heute kaum mehr im öffentlichen Bewusstsein. Dabei könne "deren Bedeutung für die Nahrungsmittelversorgung in den ersten Nachkriegsjahren kaum überbewertet werden", so urteilte der Historiker Christoph Weisz. "Sie haben die westdeutsche Bevölkerung vor dem Verhungern bewahrt."
Noch knapper hatte es in den 1950er Jahren der Chef der Ernährungsverwaltung und "Hungerdikator", Hans Schlange-Schöningen, formuliert. Bis 1948/49, so schrieb er in seinen Erinnerungen, habe das Land "vom Schiff in den Mund" gelebt.

Die Hilfen hinterließen ihre Spuren. Denn dass es die einst gefürchteten und im Krieg hart bekämpften britischen und amerikanischen "Sieger" waren, die in Westdeutschland den bitter Hungernden das Überleben erst ermöglichten, sollte in den folgenden Jahrzehnten das Denken und Verhalten der Bevölkerung gegenüber den Briten und Amerikanern prägen.