Ist das eine alte Schmiede? Eine aufgegebene Lagerhalle? Oder eine Fabrikwerkstatt? Das könnte vermuten, wer zum ersten Mal in Petershagen durch die Seitengasse im Ortskern geht und das Gebäude mit seiner Backsteinfassade, den vier hohen schmalen Fenstern und den gusseisernen Fensterrahmen sieht. Zu einer Schmiede, einer Werkstatt oder einem Lager wollen allerdings die farbigen Gläser im Oberlicht der Fenster gar nicht passen.
Das Schild an der Tür sorgt für Klarheit: „Alte Synagoge Petershagen“ steht dort zu lesen. Bei dem Gebäude handelt es sich um eine der wenigen Landsynagogen, die in Westfalen die Zerstörungen während des NS-Regimes überstanden haben. Die Zeit des Schweigens, und Vergessenwollens endete spätestens in den 1980er Jahren, als ein rühriger Verein das Gebäude wiederentdeckt, mit viel Engagement erforscht, restauriert und zu einem Museum hergerichtet hat.
Eine lange Geschichte
Die Synagoge war gut hundert Jahre lang religiöser und gesellschaftlicher Mittelpunkt der Juden Petershagens und der umliegenden Dörfer. In und um Petershagen, ehemals ein Residenzstädtchen der Mindener Bischöfe mit kaum mehr als 1000 Einwohnern, lebten jüdische Familien bereits seit dem 16. Jahrhundert. Die ersten hatte vermutlich Bischof Franz von Waldeck angeworben, der in Petershagen residierte. Sein Nachfolger Georg von Braunschweig-Wolfenbüttel hatte, um seine landesherrliche Münzproduktion aufzubessern, auf das Fachwissen jüdischer Edelmetallhändler gesetzt und sie in Petershagen siedeln lassen. Sie und ihre Nachfolger verlegten sich indes auf den Handel mit Vieh, Eisenwaren, Textilien und Getreide – einen Handel, der lokal und regional abgewickelt wurde, sich aber teilweise auch von der Weser bis nach Frankfurt/Main erstrecken konnte.
Andere Judenfamilien Petershagens gründeten ihre Existenz auf ländlichem Kleinhandwerk. Wie ihre christlichen Nachbarn Landwirtschaft zu betreiben, war ihnen indes untersagt.
Mittelpunkt der kleinen Gemeinde war anfangs eine „Stubensynagoge“, wie sie erstmals 1652 für Petershagen genannt ist – das wird kaum mehr als die geheizte Stube eines Gemeindeangehörigen gewesen sein, in der sich die Judenschaft zum Gebet und zum Austausch traf.
1796 baute die Gemeinde erstmals eine Synagoge. Von ihr ist lediglich bekannt, dass sie wie die Nachbargebäude als Fachwerkbau errichtet worden ist. Wegen Baufälligkeit wurde sie gut 50 Jahre später abgerissen und an Ort und Stelle durch den Neubau ersetzt, der 1846 eingeweiht wurde und bis heute erhalten ist.
Blicke gen Jerusalem
Das Gebäude ist rechteckig, misst 7,80 m x 9,60 m und wird von einem Satteldach bedeckt. Die längere Traufenseite steht zur Gasse hin. Die Außenfassade aus Backstein ist durch fünf gemauerte senkrechte Vorsprünge, sogenannte Lisenen, gegliedert. Damit sind fünf Säulen angedeutet, die auf den Tempel in Jerusalem verweisen.
Erst auf den zweiten Blick sind auf der Fassade horizontale Streifenmuster zu erkennen. Sie sind entstanden, weil in regelmäßigen Abständen dunkler gebrannte Backsteine vermauert worden sind. Mit gemauertem Backsteinmuster ist auch der Giebel auf der östlichen Stirnseite verziert. Oben im Giebel ist ein kreisrundes Fenster angedeutet, ein sogenanntes Misrach-Fenster. Es weist nach Osten, also nach Jerusalem.
Im Inneren weist der Synagogensaal an der Ostwand eine Nische auf. In ihr hat einst der Schrein mit der Thora, der Schriftenrolle mit den fünf Büchern Moses, gestanden. Der Thoraschrein und auch das einstige Lesepult in der Raummitte, die sechseckige „Bima“, sind vermutlich bei den Novemberpogromen 1938 herausgerissen und zerstört worden. Die Umrisse von Schrein und Bima sind heute durch eine feingliedrige Edelstahlkonstruktion im restaurierten Raum angedeutet.
Ebenfalls nicht mehr vorhanden ist die hölzerne Empore, auf der die Frauen und Kinder der Gemeinde an den Gebeten teilnahmen. Der untere Hauptsaal war den Männern vorbehalten. Spuren in den Fußbodenfliesen lassen erkennen, dass hier einmal acht Reihen von Bänken oder Pulten gestanden haben. Insgesamt fanden dort etwa 60 bis 80 Personen Platz.
Erhalten haben sich Ziermalereien unter der Decke und an den Innenwänden der Synagoge. Sie sind beim Bau oder bei späteren Renovierungen, etwa um 1890, mit Schablonen aufgetragen worden.
Eine Schule mit „Badekammer“
An der Westseite der Synagoge duckt sich ein kleineres Gebäude, in der die jüdische Schule Platz gefunden hatte. Wie Bauforschungen ergaben, handelt es sich um einen Fachwerkbau mit der Grundfläche von etwa 8 x 9 m. In ihrem Baukern stammt die Schule aus dem Jahr 1796. Im Erdgeschoss befanden sich ein Unterrichtsraum, eine Stube, ein schmaler Flur und eine „Badekammer“, wie in einem alten Grundriss zu lesen ist.
Was sich hinter dem Wort „Badekammer“ verbarg, wurde erst 2008 bei archäologischen Untersuchungen entdeckt: Eine sogenannte Mikwe, also ein Bad, das der rituellen Reinigung diente. In einer Ecke des kleinen, etwa 3 x 3 m großen Raumes führt eine wendeltreppenartige Konstruktion einige Stufen tief in ein gemauertes Wasserbecken. Es wird durch das natürlich einsickernde Grundwasser gefüllt – fließendes Grundwasser war eine Voraussetzung für die Anlage einer Mikwe.
Mit Schule, Synagoge und Mikwe hat sich in Petershagen ein baulich geschlossenes, kultisches Ensemble ländlicher Juden erhalten. Es ist in dieser Vollständigkeit und seinem historisch-kulturellen Rang weit über Westfalen hinaus einzigartig. Eindrucksvoll legt es Zeugnis vom einst blühenden jüdischen Landleben ab.
Bis in die 1930er Jahre bildete dieses bescheidene, aber durchaus repräsentativ gestaltete Gebäudeensemble den Mittelpunkt der jüdischen Landgemeinde in Petershagen. Sie umfasste damals kaum mehr als 100 Männer, Frauen und Kinder. Sie wohnten in Petershagen selbst und den umliegenden Dörfern wie Bierde, Heimsen, Ovenstädt oder Quetzen.
Zum Vergleich: Um 1900 wohnten allein in Petershagen insgesamt rund 1920 Einwohner: die meisten, 1800, waren evangelisch, 66 katholisch, 53 jüdisch. Von ihnen waren die meisten Landhandwerker, Arbeiter, Kleinhändler, Kleinbauern, Pferdehändler oder Fleischer. Aber auch ein Rechtsanwalt, ein wohlhabender Manufaktur-Kaufmann und ein Bankier gehörten zu ihnen.
Die Zerstörung einer Welt
1924 wurde die Synagoge des Landstädtchens mit antisemitischen Sprüchen beklebt. Ansonsten aber schien die Welt in Ordnung: Juden waren Stadtverordnete und Kassenrendanten, siegten beim Preisschießen des örtlichen Schützenvereins, engagierten sich im „Verschönerungsverein“ oder auch im örtlichen „Sing-Verein“, betätigten sich im örtlichen „Roten Kreuz“ und trugen an Festtagen ihre Frontkämpfer-Orden aus dem Ersten Weltkrieg am Revers.
Diese scheinbare Normalität zerriss, als die regierende NSDAP allerorten zum Sturm auf die Demokratie aufrief – und zum „Kampf gegen die Juden“. Auch in einem so kleinen Ort wie Petershagen zeigte sich der Absturz in die Barbarei: Ein angesehener Arzt verlor bereits 1933 seine Zulassung, ein Beamter wurde aus der Verwaltung herausgedrängt, Händler und Handwerker wurden boykottiert, die Kinder von Lehrern und Mitschülern eingeschüchtert.
Beim deutschlandweiten Pogrom im November 1938 zerschlugen SA-Leute und NSDAP-Anhänger aus dem Ort und dem Umland das Mobiliar in der Synagoge. Sie schändeten einige Kultgegenstände, schichteten neben dem Thoraschrein Akten aus dem Archiv der Gemeinde auf und zündeten sie an. Das Gebäude selbst aber wurde, anders als in vielen anderen Orten, nicht in Brand gesetzt.
1941 wurden die letzten Petershäger Juden, denen es nicht mehr gelungen war zu emigrieren, nach Riga deportiert und ermordet. Es war das Ende der jahrhundertealten Landgemeinde an der Weser.
Jahre der Stille, Jahre des Schweigens
Die Gebäude indes blieben stehen. Der Anbau mit der einstigen Schule wurde 1939 einem Ziegeleiarbeiter verkauft, der dort bereits zuvor gewohnt hatte und Hausmeister der Kultusgemeinde gewesen war. Die Synagoge, notdürftig geflickt und abgestützt, diente in den Nachkriegsjahren als Unterstellraum, als Lager eines Elektrohandels und eines Fahrradgeschäfts. Erst in den 1980er Jahren wurde sie in ihrer Einzigartigkeit wiederentdeckt, unter Denkmalschutz gestellt und als Museum hergerichtet.
Museum und Gedenkstätte
In den 1990er Jahren fand sich in Petershagen ein Kreis engagierter Bürger, die das Bauwerk erhalten und die Erinnerung an die einstigen Bürger der Stadt und der umliegenden Dörfer wachhalten wollten. Der 1999 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen“ gelang es, Mittel aus Stadt, Land und Kreis sowie der NRW-Stiftung zusammenzutragen und die Synagoge zu einem Museum und Lernort zu gestalten. 2012 wurde das vollständig restaurierte Ensemble aus Synagoge und Schule der Öffentlichkeit übergeben.
Es ist sonntags von 16 bis 18 Uhr geöffnet, außerdem jederzeit nach Vereinbarung unter Tel. (0 57 07) 13 78 oder 23 89.
www.synagoge-petershagen.de
Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.