"Wir hatten mal 12 Wegzüge in einem Jahr“, blickt der ehemalige Ortsvorsteher Klaus-Rainer Willeke zurück. „Aber das waren die doppelten Abiturjahrgänge“, relativiert Ratsmitglied Klaus Tolle sofort. Was nach sehr überschaubaren Zahlen klingt, ist für den kleinen Ort Sundern-Hagen mit seinen etwa 800 Einwohnern ganz erheblich. Zumal es sich bei den Fortgehenden um junge, gut ausgebildete Menschen handelte. Doch die Hagener tun einiges, um der Landflucht entgegenzuwirken.
Vier Köpfe – ein Plan
„Wir haben uns mit vier Mann hingesetzt und überlegt, was wir hier in Hagen brauchen, um als Ort zukunftsfähig zu bleiben“, beschreiben CDU-Ratsmann Tolle und Grünen-Mitglied Willeke den Anfang des Dorfentwicklungsplans, der bewusst ohne Färbung parteipolitischer Interessen auskommt. Mit dem ersten groben Plan in der Hand luden sie ihre Mitbürger in die Schützenhalle ein. „Rund 160 Dorfbewohner kamen“, freut sich Willeke, der seit November parteiloser Bürgermeister der Stadt Sundern ist, noch heute über den guten Resonanzboden, auf den die skizzierten Ideen fielen. Irgendwie schienen die vier Pioniere der Dorfentwicklung die relevanten Problemfelder auf den Punkt gebracht zu haben. Die anwesenden Bürger gründeten Arbeitsgruppen, die sich unter anderem mit der Versorgung, der Belebung des Dorfmittelpunktes und altengerechten Wohnen befassten.
Wohnraum für alt und jung
Am Ortseingang fällt ein frisch renoviertes Haus auf. Sechs Hagener haben sich privat zusammengeschlossen und die ehemalige Fabrik zu sechs barrierefreien Wohnungen sowie einem Appartement umgebaut. Ziel war es, Senioren im Ort ein neues Zuhause zu geben, wenn das eigene Haus zu groß wird. Heute wohnen hier drei Senioren sowie drei junge Paare um die 30. Auch wenn es ursprünglich anders geplant war, empfindet Klaus-Rainer Willeke, der einer der Bauherren war, es als wertvoll für den Ort: „Die jungen Menschen konnten bei ihren Eltern ausziehen und dennoch in Hagen bleiben.“ Der Wohnraum im Ort ist begrenzt, da der Bebauungsplan keine Ausweitung vorsieht. Er erlaubt lediglich Nachverdichtung und Umbaumaßnahmen.
Mountainbiker bringen’s
„Wie bei solchen Prozessen üblich, verliefen auch einige der Themen im Sande, aber im Großen und Ganzen war der Anfang gemacht“, fasst Klaus Tolle den Aufbruch in Richtung Zukunft vor sechs Jahren zusammen.Die Hagener sind ohnehin ein umtriebiges Völkchen. Das stellen sie jedes Jahr im April unter Beweis, wenn die „Mega Sports“ stattfinden. 1990 begann der örtliche Skiclub mit dem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Mountainbike-Event. „Etwa 400 ehrenamtliche Helfer aller Vereine beteiligen sich an der Durchführung“, ist Klaus Tolle stolz auf die Tatkraft. Die Veranstaltung bringt neben viel Arbeit aber auch einen sechsstelligen Umsatz, von dem ein akzeptabler Teil in der Kasse des Vereins verbleibt. „Weil das ganze Dorf mithilft, wollten wir auch, dass das ganze Dorf profitiert“, erläutert Klaus-Rainer Willeke die Beweggründe, den Förderverein Hagen-Wildewiese e.V. zu gründen, der vor nunmehr 15 Jahren die Verantwortung für die Veranstalter übernommen hat und im Anschluss die Gelder gerecht verteilt. „Jeder Verein kann sich mit einem konkreten Projekt bewerben“, erläutert der ehemalige Ortsvorsteher. Einmal im Jahr entscheidet der Förderverein unter Federführung des Ortsvorstehers, der gleichzeitig Vorsitzender ist, wie die Mittel im Ort verteilt werden. In diesem Jahr erhält der Schützenverein eine größere Summe, um die Toilettenanlage barrierefrei zu gestalten. Die außergewöhnlichste Investition war sicherlich die Kühlanlage für den eigenverantwortlichen Abschiedsraum im Ort. „Wir wollten weiterhin die Möglichkeit haben, uns vor Ort von unseren Verstorbenen verabschieden zu können“, erklärt der scheidende Ortsvorsteher die Bemühungen einer seiner Vorgängerinnen für das Gemeinwohl.
Selber machen bringt’s
Wenn die Hagener eine Idee haben, dann fackeln sie nicht lang. So asphaltierten sie 2019 den 20 Jahre alten, seinerzeit selbst angelegten Radweg ins 3 km entfernte Allendorf in Eigenleistung. Der Nachbarort verfügt über die medizinische Grundversorgung, während Hagen eine moderne Sportanlage sein Eigen nennt, die auch die Kinder und Jugendlichen aus Allendorf gern nutzen. Im Sorpetal setzt man lieber auf Gemeinsamkeit, als nur um den eigenen Kirchturm zu denken. Zunächst finanzierten die beiden Dörfer die Modernisierung des streckenweise nur noch mit dem Mountainbike befahrbaren Weges, aus eigenen Mitteln. „Im Nachhinein hatten wir dann ein wenig Glück“, schmunzelt Klaus Tolle. Ein neu initiiertes Förderprogramm des Landes NRW ermöglichte es ihnen, den frisch asphaltierten Weg nachträglich zum „Bürgerradweg“ zu erklären und einen Großteil der Kosten erstattet zu bekommen.
200 Lebensmittelhändler im Dorf
Die Dorfbewohner waren stets stolz, einen Lebensmittelladen im Ort zu haben. Als die Inhaberfamilie ankündigte, sich zurückziehen zu wollen, steckten die Hagener lieber die Köpfe zusammen als in den Sand. Die Idee reifte, einen Dorfladen als GmbH zu gründen. Jeder Bürger sollte einen Anteil erwerben können. „Bereits an dem Abend, als wir die Überlegung bei einem unserer Ortsgespräche präsentierten, hatten wir die Zusagen für rund 50 000 € in der Tasche“, freut sich Klaus-Rainer Willeke. Drei aktive und 200 stille Gesellschafter sind seitdem Eigentümer des neuen Dorfladens, der nach kurzen Umbauarbeiten in die alten Räumlichkeiten einzog. „Wir konnten den Laden zu einem günstigen Kurs von der ehemaligen Händlerfamilie mieten“, ist der 63-jährige Klaus-Rainer Willeke dankbar für die Verbundenheit innerhalb des Dorfes. Neben den bis zu sechs Teilzeitkräften engagieren sich einige Hagener ehrenamtlich im Laden. Sie füllen Regale auf oder betätigen sich in Corona-Zeiten auch als “Scout“, um die notwendigen Hygieneauflagen sicherzustellen. Die Preise im Laden gleichen denen der umliegenden Filialen der großen Handelsketten. „Gerade in dieser, von Corona geprägten Zeit freuen sich besonders die älteren Kunden über die Gespräche vorm und im Laden“, weiß Klaus Tolle, der wie viele andere auch schon vor dem Laden den Einlass regelte. Das ist besonders zu den Stoßzeiten am Freitag Nachmittag und Samstag Vormittag erforderlich.
Schützenfest als Forum
Doch für die Zukunft des Dorfes brauchte es mehr als Mobilität und Grundversorgung. „Wegen des demografischen Wandels müssen wir aktiv um junge Menschen werben,“ sind sich die beiden ehrenamtlichen Dorfentwickler einig. Gemeinsam mit Betrieben aus der Region stellten sie deshalb eine Veranstaltung auf die Beine, bei der sie über die vielfältigen Arbeitsplätze ringsum informierten. Um möglichst viele „Exil-Hagener“ zu erreichen, machten sie sich viele Gedanken um den besten Termin. „Zu zwei Anlässe kommen viele junge Menschen zurück ins Dorf: Weihnachten und Schützenfest“, erzählt der 55-jährige Klaus Tolle. Sie setzten den Samstagvormittag vor Beginn des Schützenfestes an. 50 junge Menschen kamen und nutzten die Möglichkeit zum Austausch. Die Idee, Hagen jünger zu machen, wurde zum dominierenden Thema des gesamten Schützenfestes. Bei all ihren Projekten verlassen sich die Dorfbewohner ungern nur auf glückliche Zufälle und Bauchgefühl. Sie setzen viel auf Sachverstand.
Beratung nutzen
„Wir haben verschiedene Beratungsangebote in Anspruch genommen“, erklärt Klaus-Rainer Willeke. Sie fragten bei der Südwestfalen Agentur, einem Berater für Dorfläden sowie einer Dorfmanagerin aus einem Nachbarort um Rat. „Wenn die Möglichkeit besteht, von Erfahrungen anderer zu lernen, dann sollte man das unbedingt tun“, meint der ehemalige Ortsvorsteher. Daher ist es für die Hagener selbstverständlich, dass auch sie im Gegenzug ihre Erfahrungen weitergeben. Klaus-Rainer Willeke und Klaus Tolle wissen aber auch, dass es kein Patentrezept gibt: „Ein gesundes Dorfleben kann nur aus den Menschen selbst erwachsen.“
In lockerer Folge stellen wir „Dorfideen mit Weitblick“ vor – ein Kooperationsprojekt von Wochenblatt und Westfälischem Heimatbund, gefördert von der NRW-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege und der Provinzial Versicherung.