Wer schon einmal eine Einbauküche geplant hat, der weiß: Es ist ein Puzzlespiel. Bis alle Geräte und Schränke sitzen, braucht es Zeit und Gehirnschmalz. Die Meister dieser Knobeleien sitzen im Kreis Herford.
„Küchen bauen ist eigentlich Logistik“, sagt Hartmut Braun, langjähriger Wirtschaftsredakteur der „Neuen Westfälischen“. Aus Hunderten von Einzelteilen wird ein fertiges Produkt. Darin haben es die Küchenhersteller in dieser Ecke Ostwestfalens im Laufe der Jahrzehnte zu einer Könnerschaft gebracht, die weltweit ihresgleichen sucht.
Ballung von in Herford und Umgebung
Sie heißen Artego, Ballerina, Brigitte, Eggersmann, Häcker, Nolte, Poggenpohl, SieMatic oder Rotpunkt. Nirgendwo sonst ballen sich so viele Küchenhersteller wie zwischen Spenge und Vlotho.
Die Unternehmen haben nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur viele deutsche Haushalte geprägt, sondern auch im Export einen Siegeszug angetreten. Nahezu jede dritte Einbauküche Europas stammt aus dem Kreisgebiet.
Doch warum kommt es gerade im Kreis Herford, einer der waldärmsten Regionen Westfalens, zu dieser Ballung? Entscheidend für erste Erfolge im 19. Jahrhundert mit Möbeln wie dem Küchenschrank war die gute Verkehrsanbindung – früher über die Eisenbahn mit der Strecke Köln-Minden, heute über die Autobahnen A 2 und A 30.
Holz aus dem Sauerland, der Egge oder dem Teutoburger Wald ließ sich damals gut heranschaffen. Außerdem lag mit dem Ruhrgebiet ein großer Absatzmarkt in Reichweite.
Walter Ludewig und die Einbauküche
Nicht zu unterschätzen sind laut Hartmut Braun aber auch Unternehmerpersönlichkeiten wie Walter Ludewig, der als Geschäftsführer die Möbelfirma Poggenpohl in Herford leitete. Er begriff die Küche als System und löste einzelne Funktionen wie Stauraum für Speisen oder Geschirr in der Einbauküche auf.
Poggenpohl und die Familie Siekmann aus Löhne, später besser bekannt unter dem Markennamen SieMatic, gehörten zu den Ersten, die nach dem Zweiten Weltkrieg keine einzelnen Möbelstücke, sondern ganze Raumeinrichtungen anboten. „Dieses Konzept musste erst mal an den Mann gebracht werden und am Markt platziert werden“, erzählt Hartmut Braun. Dabei war die Kölner Möbelmesse eine wichtige Drehscheibe.
Der Erfolg rief schnell Nachahmer auf den Plan. In den 1950er- und 1960er-Jahren kupferten viele kleinere Unternehmen aus der Region das Konzept ab. In Spitzenzeiten gab es im Kreis Herford an die 100 „Küchen-Buden“, wie Hartmut Braun sie nennt. Allein in seiner Heimatgemeinde Hiddenhausen fertigten fast ein Dutzend Betriebe – unter anderem Wellmann.
Das Unternehmen mischte mit dem Küchenblock die Branche auf. Er ließ sich günstig nach Normmaßen fertigen. Wellmann entwickelte sich unter dem Namen Casawell-Gruppe in den 1980er-Jahren zum größten Küchenhersteller Europas. Ausgestattet mit Geld des niederländischen Elektro-Riesen Philips investierte und expandierte das Unternehmen. Dem Expansionsdrang erlagen viele kleinere Betriebe in der Nachbarschaft. Seit 2017 ist das Unternehmen aber selbst Geschichte.
Schritt zur Automatisierung der Fertigung
In Wellmanns Windschatten entwickelten sich die heutigen Riesen der Branche: Der größte Hersteller ist Nobilia mit 1,28 Mrd. € Umsatz im Jahr 2019. Er sitzt nahe der Kreisgrenze in Verl im Kreis Gütersloh. Häcker aus Rödinghausen im Besitz der Familie Finkemeier liegt auf Platz zwei mit 616 Mio. €. Zu den Großen zählen auch Nolte und Bauformat aus Löhne.
„Die großen Hersteller werfen mehrere Tausend Küchen pro Woche auf den Markt“, sagt der Branchenkenner. Diese Hersteller automatisierten die Küchenproduktion nach dem Vorbild der Automobilindustrie und entwickelten Verfahren, die das Anliefern der Holzwerkstoffe über das Zuschneiden bis hin zum Abtransport vernetzen, schon bevor der Begriff „Industrie 4.0“ in aller Munde war.
„Die Maschinen können mittlerweile Unglaubliches“, schwärmt Hartmut Braun. Sie schneiden, kanten, bohren, leimen, pressen und verpacken völlig automatisch.
Ein großes Problem war bei der Serienfertigung die Umrüstzeit. Nobilia und Häcker minimierten sie erfolgreich. Hinzu kommt eine radikale Kundenorientierung. „Firmen wie Häcker wollen rund um die Uhr und weltweit für ihre Käufer verfügbar sein“, verdeutlicht Hartmut Braun.
Sich in der Region OWL halten
Der Küchenmöbelindustrie ist bisher das Schicksal anderer Möbelbranchen aus OWL – sei es die Polstermöbel- oder Schrankindustrie – erspart geblieben. Ihre Produktion ist nicht in Länder abgewandert, in denen die Löhne auf einem niedrigeren Niveau als in Deutschland liegen.
„Die Hersteller haben rechtzeitig und konsequent automatisiert“, sagt Hartmut Braun. Die beständige Automatisierung hat den Lohnkostenanteil an der Produktion drastisch gesenkt.
Was anfänglich als Bedrohung der Arbeitsplätze empfunden wurde, entpuppte sich im Nachhinein als deren Sicherung. Es konnte weiter vor Ort produziert werden. Gegenwärtig sind knapp 1700 Mitarbeiter bei Häcker in Rödinghausen beschäftigt, mehr als 3500 weitere Arbeitnehmer bei anderen Herstellern im Kreis. Insgesamt hängt jeder dritte der knapp 35 000 Industriearbeitsplätze im Kreis Herford direkt oder indirekt mit der Küchenmöbelindustrie zusammen.
Noch zählt der Vorsprung der Küchenhersteller
Dabei konzentriert sich die Branche immer weiter. Hartmut Braun würde es wundern, wenn alle der noch knapp 20 Hersteller das neue Jahrzehnt überleben. Vor allem kleinere Unternehmen werden es schwer haben, sich in ihrer Nische zu behaupten.
Denn die Großen werden nicht nur weiter die Menge hochfahren, sondern immer mehr in den Luxusbereich vorstoßen. Außerdem wird es schwieriger sein, sich als kleiner Produzent gegenüber den großen Händlern zu behaupten.
Kurzfristig schätzt Hartmut Braun die Marktchancen für die großen Hersteller als gut ein. Vor allem im Export ließen sich noch Geschäfte machen. Aber auch auf die Großen der Branche werden weitere Herausforderungen zukommen: Braucht es die Einbauküche in der Form überhaupt noch? Wann fangen die Chinesen an, in gleicher Qualität Küchen für einen deutlich geringeren Preis zu produzieren? Hartmut Braun betont: „Die Herausforderung wird sein, den Exzellenzvorsprung zu halten.