Jüdisches Landleben: Vernichtung und Massenmord

Der Name in der Schützenkette: Wer war Paula Adelsheimer?

Paula Adelsheimer, Tochter eines jüdischen Viehhändlers, wurde 1929 als Schützenkönigin in Schermbeck gefeiert. Nur zehn Jahre später musste sie den Ort verlassen, 1943 wurde sie in Auschwitz ermordet

Die Getreidepreise waren niedrig, die Arbeitslosigkeit stieg – ja, die Zeiten waren schlecht im Frühsommer 1929. Überall war die Agrar- und Wirtschaftskrise spürbar, auch im Landstädtchen Schermbeck, an der Grenze zwischen Westfalen und Rheinland, zwischen ländlichem Münsterland und industriellem Ruhrrevier gelegen. Aber ihr Schützenfest, das ließen sich die rund 1100 Bewohner des Dorfes und ihre traditionsreiche „Kilian-Schützengilde von 1602“ nicht nehmen.

In jenem Frühsommer 1929 schoss ein Mann namens Karl Schulz den Vogel ab. Zur Königin für ein Jahr erwählte er die 24-jährige Schermbeckerin Paula Adelsheimer, Tochter eines jüdischen Viehhändlers im Dorf.

Das Medaillon mit den Namen des Schützenkönigpaars von 1929 aus der Schermbecker Schützenkette. (Bildquelle: G. Strotdrees)

Nach dem Abschluss der Schützenfest-Feierlichkeiten wurde sogar, so war es Brauch, der Name der jungen Frau neben dem des Königs in ein Medaillon graviert. Es hängt bis heute in der Schützenkette: „Karl Schulz Frl. Paula Adelsheimer 1929“ ist auf dem Medaillon zu lesen – die Erinnerung an ein ganz besonderes Ereignis.

Ein Jahr lang wurde die junge Frau als Schützenkönigin im Dorf „respektiert und bewundert“, erinnert sich später ihre Nichte Marga Silbermann-Randall. „Zwölf Jahre später wurde Paula Adelsheimer verschleppt, in Birkenau vergast und verbrannt.“

Jüdische Schützenköniginnen und -könige
Schützenvereine haben im ländlichen Westfalen eine bis ins Mittelalter zurückgehende Tradition. Sie waren häufig als christliche Bruderschaften organisiert. Juden hatten bis etwa 1800 kaum eine Chance zur Mitgliedschaft. Das änderte sich im 19. Jahrhundert, als sie volle Bürgerrechte erhielten. Über ihre Mitgliedschaft in den Schützenvereinen kam es mancherorts zu heftigen antijüdischen Konflikten, so etwa in Werl 1826 oder in Geseke 1844/45 – die dortigen Unruhen bildeten den Hintergrund für das Schauspiel „Arthur Aronymus und seine Väter“ von Else Lasker-Schüler.
Nicht alle, aber doch eine ganze Reihe westfälischer Schützenvereine öffnete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der Mitgliedschaft von Juden und konnten so zu Instanzen ländlicher Integration werden. Auch das in der Dorfgesellschaft herausgehobene Ehrenamt eines Schützenkönigs oder einer Schützenkönigin blieb ihnen nicht verwehrt. Das zeigt diese – sicher unvollständige – Liste jüdischer Schützenkönige und -königinnen in Westfalen:
1832 Leopold Wittgenstein, Bielefeld
1842 Levy Auerbach, Lüdinghausen
1846 Samuel Ney, Kamen
1850 David Rosenbaum, Halle/W.
1868 Jonas Meier, Herford
1868 Salomon Hochheimer, Steinheim
1869 Mathilde Ostwald, Salzkotten
1877 Levi Auerbach, Vreden
1878 Josef Bernstein, Fröndenberg
1882 Jacob Leeser, Dülmen
1882 Meier Moses, Wulfen
1883 Emanuel Katz, Westheim
1887 Cossman Cosmann, Legden
1891 Carl Levison, Bünde
1893 Selma Rothschild, Menden
1894 Leeser Landau, Ramsdorf
1894 David Gottschalk, Nienborg
1895 Moriz Winkler, Ahaus
1895 Sara Cohen, Weseke
1896 Josef Alexander, Rüthen (auch 1913 und 1926 König)
1900 Sally Jacoby, Kamen
1901 Sophie Landau, Gemen
1904 Julius Weingarten, Herford
1905 Moses Hirsch, Burgsteinfurt
1906 Hugo Kabaker, Lemgo
1906 Albert Lebenstein, Reken
1907 Julius Rollmann, Ahlen
1910 Louis Cleffmann, Rhede
1911 Dr. Georg Rosenthal, Arnsberg
1911 Johanna Oppenheim, Petershagen
1912 Otto Cohen, Burgsteinfurt
1913 Julius Mildenberg in Lengerich (auch 1914 König)
1920 Siegfried Homberg und Elly Dalberg, Marsberg-Niedermarsberg
1921 Albert Heimann, Burgsteinfurt
1921 Louis Steinberg, Oelde
1922 Irma Bierhoff, Borgentreich
1925 Julius Steinmann, Burgsteinfurt
1925 Hildegard Rosenberg, Freckenhorst
1925 Eva Marx, Kreuztal-Littfeld
1926 Louis Frankenberg, Menden
1926 Wilhelm Humberg, Ramsdorf
1931 Erich Jacob, Finnentrop-Lenhausen
1962 Hugo Spiegel, Warendorf

In zwei Grenzorten auf dem Land: Die Familie Adelsheimer

Paula Adelsheimer entstammte einer jüdischen Familie, deren Vorfahren seit vielen Generationen in Westfalen lebten. Die Wurzeln der Familie lagen in Lemförde – wie Schermbeck ein Ort, der an einer Grenze lag: ein Dorf zwischen Westfalen und Niedersachsen, etwa in der Mitte zwischen Osnabrück, Minden und Vechta.

Ihr Vater Gustav Adelsheimer, 1865 in Lemförde geboren, hatte den Ort verlassen und sich gemeinsam mit seiner Frau Emma in Schermbeck eine Existenz als Viehhändler aufgebaut. Die beiden bekamen einen Sohn und drei Töchter. Paula, geboren 1906, war die jüngste. „Sie war ruhig, bescheiden und gebildet, ganz die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes und respektierten Gemeindemitglieds“, erinnert sich ihre Nichte.

Die Familie Adelsheimer gehörte zur kleinen jüdischen Gemeinde im Ort, die um 1930 aus etwa 90 Personen bestand. Es gab sogar eine kleine Landsynagoge. Der Bau von 1810 erinnerte an frühere Glanzzeiten, als die jüdischen Landgemeinde in Schermbeck noch mehr Mitglieder gehabt hatte.

Das Jahr 1929 brachte mit der Ehre der Schützenkönigin einen der letzten Höhepunkte im Alltag der Familie: „Es war wirklich eine Ehre für sie, die Heimatstadt zu repräsentieren“, erinnert sich ihre Nichte. „Bei ihrer Krönung teilten der Schützenkönig und seine Königin mit dem Bürgermeister in Zylinder und Frack und seiner Frau die weiße Pferdekutsche. Ich kann meinen Großvater (Gustav Adelsheimer) im Türrahmen seines Hauses stehen sehen, als der Umzug mit seiner Tochter Paula vorbeikam: ihr Diadem funkelnd in der Sonne und Opa stolz wie ein Gockel, dass seiner hübschen Tochter von Hunderten von Leuten applaudiert und zugejubelt wurde.“

Paula Adelsheimer (links) mit Angehörigen im Garten des Hauses in Schermbeck - das Foto entstand 1933. (Bildquelle: Leo Baeck Institute New York)

Verfolgt und ermordet

Bei allem Glanz war die Lage doch auch gefährdet und brüchig. Das zeigte sich nur wenige Jahre später, als Nazis auch in Schermbeck die Macht in Händen hielten. Die jüdischen Familien wurden gemieden, isoliert, boykottiert, beschimpft. Misstrauen und Angst, Ablehnung und Ausgrenzung bestimmten die Atmosphäre. Gustav Adelsheimer war im örtlichen Kegelclub nicht mehr willkommen, 1935 musste er seinen Viehhandel einstellen. Die Schlachter durften nicht mehr bei ihm einkaufen.

In der Pogromnacht im November 1938 schließlich fielen Nazi-Schlägertrupps über die Schermbecker Landsynagoge her. Auch die Häuser jüdischer Familien im Dorf suchten sie heim. Die Familie Adelsheimer konnte sich zunächst bei Nonnen im katholischen Krankenhaus verstecken, später dann mit anderen in den Wäldern des Dorfes. Am nächsten Morgen kehrten sie zurück und sahen, dass ihr Haus geplündert, das Mobiliar zertrümmert, die Fenster eingeschlagen waren. Im Wohnhaus eines benachbarten Bauern, der ihnen zur Hilfe geeilt war, waren ebenfalls alle Fensterscheiben zerschlagen.

Der anschließende Versuch der Familie, zu fliehen und in die USA auszureisen, scheiterte. Emma und Gustav Adelsheimer und ihre Tochter Paula, die sich um ihre mittlerweile betagten Eltern kümmerte, verließen im Januar 1939 Schermbeck und zogen nach Berlin – vielleicht auch in der Hoffnung, sich in der Anonymität der Großstadt weiteren Anfeindungen eher entziehen zu können. In Berlin bezogen die drei „eine dunkle, trostlose Wohnung im zweiten Stock eines Privathauses“, heißt es in den Erinnerungen der Nichte. Die bereits erkrankte Mutter Emma Adelsheimer starb dort drei Jahre später.

Am 6. März 1943 schließlich wurde Paula Adelsheimer von ihrem Vater getrennt. Sie wurde in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Ihr Name findet sich auf einer Liste zum „35. Osttransport“, ausgestellt von der Stapo(=Staatspolizei)-Leitstelle Berlin – einer von 661 weiteren Namen auf der Liste, und eine von sechs Millionen, die in der Shoah, dem industriellen Massenmord Hitler-Deutschlands an den europäischen Juden, ermordet wurden.

Elf Tage nach der Verschleppung der Tochter wurde der 78 Jahre alte Vater am 17. März 1943 in das KZ Theresienstadt deportiert. Er starb dort am letzten Augusttag 1943.

Der Name auf der Transportliste nach Auschwitz-Birkenau (Hervorhebung G. Strotdrees) (Bildquelle: ITS Arolsen Archives)

„Warum? Wir fragen warum, aber wir bekommen keine Antwort“, schreibt Paula Adelsheimers Nichte Marga Silbermann-Randall später in ihren Erinnerungen. „Wir können unsere Toten nur bis in alle Ewigkeit weiterlieben.“

Was von Paula Adelsheimer blieb, sind die bewegenden Erinnerungen ihrer Nichte, einige Familienfotos aus scheinbar unbeschwerten Zeiten Schermbecker Landlebens, der Eintrag auf der Transportliste nach Auschwitz-Birkenau – und der eingravierte Name in der Schermbecker Schützenkette. Die Plakette, die an ein frühsommerliches Fest erinnern sollte, wurde zum Mahnmal, zum Zeichen einer unauslöschlich eingravierten Erinnerung an die Shoah.

Es stand im Wochenblatt
Am 17. Juli 1943 veröffentlichte das Wochenblatt der NS-Landesbauernschaft Westfalen einen Leitartikel unter der Überschrift „Wir oder die Juden!“, verfasst von Franz Merk aus Baden, Landwirt, SS-Sturmführer und Landesobmann im Reichsnährstand. Darin heißt es: „Die nationalsozialistisch-faschistische Neuordnung beruht auf der rassisch-völkischen Leistungs- und Schaffenskraft freier, unabhängiger Nationen im soldatischen Kampf an den Fronten. Im Schaffen auf dem Bauernacker und im Rüstungsbetrieb äußert sich die neue Volksgemeinschaft, die bereit und willens ist, sich für ein höheres Ziel und nicht bloß für das eigene Ich einzusetzen.“ Diese „Ordnung“, so Merk, sei „der jüdischen Interessenpolitik unerträglich“, deshalb müsse die „jüdische Weltdiktatur“ bekämpft werden. Und weiter:
„Heute muss der Jude vernichtet werden, damit die gesunden und rassisch guten Kräfte in der Welt auf bäuerlich-natürlicher Grundlage eine neue Welt- und Lebensordnung gestalten können.“
Dieser radikale Rassenhass und der offene Aufruf zur Vernichtung war kein Einzelfall. Seit 1933/34 hatte das NS-Wochenblatt regelmäßig die jüdische Minderheit angriffen und zustimmend berichtet, wenn Kornhäuser im Land enteignet („arisiert“) oder jüdische Händler „ausgeschaltet“ wurden. Die antisemitische Propaganda, durchsetzt mit Lügen und wirren Verschwörungstheorien, radikalisierte sich in den Kriegsjahren ins Unermessliche. So wurde im Wochenblatt in aller Offenheit die „Endlösung der Judenfrage“, der Massenmord an der jüdischen Minderheit, propagiert. Ein Leitartikel am 22. Mai 1943 wurde besonders deutlich. Zitiert wurde die berüchtigte Ankündigung Hitlers vom Januar 1939, dass ein weiterer Weltkrieg „nicht zur Vernichtung, der arischen Menschheit, sondern zur Auslöschung der jüdischen Rasse führen werde“. Dies, so hieß es nun im NS-Wochenblatt, sei „nicht mehr aufzuhalten“, es sei „ein Weltproblem erster Ordnung“, und: „Hier haben weichliche Erwägungen keinen Platz.“ Der Beitrag schließt mit dem vieldeutigen Satz:
„Schon beginnt der Krieg, den sie anzettelten, ein Krieg gegen sie selbst zu werden. Als sie gegen das deutsche Volk den Plan einer totalen Vernichtung fassten, unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil. Am Ende wird die Verwirklichung der Prophezeiung des Führers stehen. Auch hier wird damit die Weltgeschichte zum Weltgericht.“
Unterzeichnet war dieser Text mit dem Kürzel „F. L.“. Wer sich dahinter verbirgt, ist bisher nicht bekannt.

Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.


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