Jüdisches Landleben: Zur Vorgeschichte

C. W. Dohm aus Lemgo: Der Mann, der Türen aufstieß

Jahrhundertelang war es Juden verboten, Landwirtschaft zu betreiben. Das änderte sich, als ein Staatsmann aus Lemgo für die Juden „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Untertanen“ forderte.

Wie können die Angehörigen der jüdischen Minderheit „glücklichere und bessere Glieder der bürgerlichen Gesellschaften“ werden? Diese Frage bewegte den aus Lemgo gebürtigen Staatsmann und Aufklärer Christian Wilhelm Dohm (1751-1820) wie nur wenige seiner Zeit. Im 18. Jahrhundert, als Dohm darüber nachzudenken begann, lebte der größte Teil der Juden Westfalens in denkbar bescheidenen, ja elenden Lebensverhältnissen: in den Städten nicht selten in ghetto-ähnlichen Bezirken, auf dem Land zumeist verstreut und verarmt.

Die Erklärung für diese Verhältnisse suchte Dohm nicht, wie so viele seiner Zeit, im angeblichen Verhalten der jüdischen Minderheit, sondern: Ausschlaggebend seien vielmehr die Unterdrückung und die Verbote der absolutistischen Kleinstaaten sowie die religiösen Anfeindungen und Ausgrenzungen. "Wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn (gemeint sind: die Juden) anklagen" – mit diesem Satz brachte der politische Schriftsteller und Aufklärer seinen Perspektivwechsel auf den Punkt.

"Menschen wie alle übrigen"

Dohm ging vom Grundsatz aus, "dass die Juden Menschen wie alle übrigen sind, dass sie also auch, wie diese, behandelt werden müssen". Bislang habe sie "eine durch Barbarey und Religionsvorurtheile veranlasste Drückung herabgewürdigt und verderbt". Dabei sei das Gegenteil ethisch richtig und wirtschaftspolitisch vernünftig: "Allein ein entgegengesetztes, der gesunden Vernunft und Menschlichkeit gemäßes Verfahren (kann) sie zu bessern Menschen und Bürgern machen." Allein schon das Wohl der bürgerlichen Gesellschaften erfordere es, "keinem ihrer Glieder den Fleiß zu wehren und die Wege des Erwerbs zu verschließen".

Dohm hatte die staatsbürgerlichen Schriften seiner Zeit studiert, hatte mit großen Vordenkern wie Moses Mendelsohn in Berlin korrespondiert und sich berichten lassen, wie es um die Judenschaft etwa im Elsass bestellt war. 1781 schließlich legte er seine Grundsatzschrift nieder, deren Titel Programm war – und gleichzeitig ein Appell an die Landesherren auf deutschem Boden: „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ nannte er seine bis heute lesenswerte Schrift, in der es auch um Grundfragen des Verhältnisses von Staat und Religion, von Freiheit und Toleranz ging, zuallererst aber um das Verhältnis zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit und um die Frage, "wie die Juden glücklichere und bessere Glieder der bürgerlichen Gesellschaften werden könnten".

Neun Schritte zum Besseren

Dieses Ziel glaubte Dohm in neun Schritten erreichen zu können. An erster Stelle forderte er, dass sie „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen erhalten“ müssten. Außerdem müssten die für die Juden geltenden Beschränkungen in Handel und Handwerk aufgehoben werden.

An dritter Stelle nannte Dohm die Landwirtschaft, damals der mit Abstand wichtigste wirtschaftliche Zweig, aus dem die Juden aber bis dahin fast vollständig verbannt waren. Dohm forderte stattdessen: „Auch mit dem Ackerbau sich zu nähren müsste den Juden nicht verwehrt seyn.“ Und weiter:

„Nicht zu grossen Güterbesitzern und Pächtern (wozu ohnedem nur wenige das Vermögen haben,) wünschte ich die Juden ermuntert zu sehn, als vielmehr zu eigentlichen selbstarbeitenden Bauern. Das Geld, welches man in vielen Staaten auf Kolonisten wendet, würde in manchen Fällen gewiß besser angelegt werden, wenn man für dasselbe einheimischen betriebsamen Juden kleine noch unbebauete Stücken Landes und Wohnungen anwiese, und sie bey den ersten Auslagen für den Ackerbau unterstützte. Auch würde es vielleicht zuträglich seyn, den Geist dieser Beschäftigung bey der Nation von neuem zu beleben, wenn man bey den jüdischen Pächtern oder Besitzern grosser Güter es zur Bedingung machte, daß sie dieselben mit einer gewissen Anzahl jüdischer Knechte bearbeiteten.“

Die Titelseite der Schrift von C. W. Dohm (Bildquelle: Universität Bielefeld / Screenshot Wochenblatt)

Landbesitz war den Juden untersagt

Mit diesen Ausführungen rüttelte Dohm an tradierten Verboten und damals gängigen Vorstellungen. Dass Juden es angeblich ablehnten, sich in der Landwirtschaft zu betätigen, zählte zum Vorrat antijüdischer Vorurteile, der sich über Jahrhunderte hinweg aufgetürmt hatte.

Dabei zeigte schon ein Blick in die mittelalterliche Geschichte wie auch in die Realität europäischer Nachbarländer des 15. bis 18. Jahrhunderts, dass sich Angehörige der jüdischen Minderheit sehr wohl auf Ackerbau und Viehhaltung verstanden und sie jahrhundertelang betrieben. In den Territorien des Reiches indes hat sich diese Art wirtschaftlicher Betätigung nie ausbilden können, da den Angehörigen der jüdischen Minderheit über Jahrhunderte hinweg der Erwerb bzw. Besitz von Grund und Boden untersagt war.

Selbst wenn sich Käufer und Verkäufer handelseinig waren, konnte der Landesherr solche Eigentümerwechsel unterbinden. Um ein Beispiel zu nennen: 1790 sollte das ravensbergische Gut Holzhausen verkauft werden. Der Eigentümer, Oberstwachtmeister von Stedingk, und der interessierte Käufer, der Händler und „Müntz-Director“ Löb Michael Breslau aus Münster, waren sich einig geworden. Sie hatten bereits einen Kaufvertrag aufgesetzt. Doch der Besitzwechsel kam nicht zustande, weil der preußische König Friedrich Wilhelm II. höchstpersönlich die Genehmigung verweigerte.

Ausnahmen: Frühe jüdische Bauern
Trotz aller Verbote gab es auch in früheren Jahrhunderten vereinzelt jüdische Landeigentümer und auch Landwirte in Westfalen. So erwarb bereits im 17. Jahrhundert ein Geseker Jude namens Wallich ein Gut nahe des Dorfes Böckenförde. Etwa zur selben Zeit pachtete ein Erwitter Jude, dessen Name mit Joseph oder auch Josell wiedergegeben ist, eine zu Paderborn gehörende Hofstätte – die Abgaben musste er zugunsten einer Kapelle in Westernkotten entrichten. Und im lippischen Kirchdorf Schötmar, um ein drittes Beispiel zu nennen, sind für das 18. Jahrhundert jüdische Einwohnerfamilien dokumentiert, die Ländereien besaßen und bewirtschafteten und die ihre Kühe, Rinder und Schweine auf die Gemeinheitsflächen des Kirchdorfes trieben – die also Landwirtschaft in ähnlichen Formen betrieben wie ihre christlichen Nachbarn. Es konnte auch vorkommen, dass größere Schulzenhöfe in Westfalen Wiesen- und Weideflächen an jüdische Händler verpachteten, die sie dann für ihren Viehhandel nutzen konnten.
Ein jüdischer Hofagent besaß in den Jahren ab 1789 sogar ein landtagsfähiges Rittergut in Schötmar. Er war zu diesem Eigentum gekommen, weil ein von ihm anvisierter Käufer vom Kauf zurückgetreten war und er nun selbst alle Rechte und Pflichten, insbesondere die Aufrechterhaltung des landwirtschaftlichen Betriebes, wahrzunehmen hatte.

Die große Mehrheit des Landjudentums in Westfalen sah sich gezwungen, ein Einkommen auf anderen Wegen zu erzielen, insbesondere durch den lokalen und regionalen Handel mit Vieh, Getreide, Textilien und anderen Produkten der Landwirtschaft bzw. des ländlichen Handwerks. Handel, (koschere) Schlachterei und Geldverleih waren die einzigen Gewerbe, die den Juden von der christlichen Mehrheitsgesellschaft gestattet wurden.

Freiheit aus dem Westen

Erst in der napoleonischen Zeit änderte sich in Westfalen der Wind. Napoleons Truppen trugen die Ideen der Französischen Revolution ins Land. Zu ihnen zählte die völlige rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit. Darin eingeschlossen war das Recht auf Landeigentum und Berufsfreiheit. Erst jetzt stand es ihnen prinzipiell frei, sich unter anderem als Landwirte zu betätigen.

Entsprechende Edikte wurden 1808 in den beiden französischen Satellitenstaaten auf westfälischem Boden erlassen:

  • zunächst im „Königreich Westphalen“, das weite Teile des heutigen Ostwestfalen sowie von Südniedersachsen, Nordhessen und Sachsen-Anhalt abdeckte, und
  • wenige Monate später im „Großherzogtum Berg“, das als französisches Satellitenstaat von Nordhorn bis Dillenburg reichte.

Am 11. März 1812 folgte Preußen. Dessen„Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ beendete ebenfalls die althergebrachten Einschränkungen und setzte Dohms Ideen um. Das Edikt erklärte Juden zu Staatsbürger und räumte konsequenterweise in § 11 auch das Verbot von Grundbesitz beiseite: „Sie können Grundstücke jeder Art, gleich den christlichen Einwohnern, erwerben, auch alle erlaubte Gewerbe mit Beobachtung der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften treiben.“

Preußisches Durcheinander

Doch dieses Edikt galt nur in den alten Teilen Preußens wie Brandenburg, Pommern, Ostpreußen oder Schlesien, nicht jedoch in den damals bereits preußischen Teilen Westfalens wie Minden-Ravensberg oder der Grafschaft Mark. Als 1815 die „preußische Provinz Westfalen“ gebildet wurde, trat hier keineswegs automatisch das Emanzipationsedikt in Kraft. Vielmehr wurden die Juden Westfalens, so dekretierte es der Innenminister aus Berlin, „in eben der Lage belassen, in welcher sie bei der Okkupation angetroffen waren“.

Das hieß für die folgenden drei Jahrzehnte: Die westfälischen Juden unterlagen fünf (!) unterschiedlichen Judenordnungen – je nachdem, ob ihr Dorf oder ihre Kleinstadt in einem Landstrich lag, der vor 1815 zum Großherzogtum Hessen gehörte hatte, zur Grafschaft Wittgenstein, zum Kaiserreich Frankreich oder dessen französisch dominierten Modell- und Satellitenstaaten, also dem Großherzogtum Berg oder dem Königreich Westphalen. Während diese „französischen“ Territorien die rechtlichen Hindernisse für die Juden weitgehend beiseite geräumt hatten, herrschten in der Grafschaft Wittgenstein besonders restriktive Regeln – hier waren die Juden „bis 1842 theoretisch sogar vogelfrei“, so der Historiker Diethard Aschoff.

Diese regionalen Unterschiede erklären unter anderem auch, warum Juden in so unterschiedlichem Maße in einzelnen Regionen Westfalens Landbesitz erwerben konnten. Erst 1847 wurden die rechtlichen Unterschiede beseitigt. Damit trat das 1812 erlassene Edikt zur Gleichstellung der Juden endgültig und flächendeckend auch für Westfalen in Kraft.

DOHM: "FREYGEBIGKEIT GEGEN FREMDE"
„Immer waren die Staaten die glücklichsten, reichsten an Fleiß, Production und Gelde sowie die geliebtesten von ihren Bürgern, die mit Ertheilung ihres Bürgerrechts am freygebigsten, jedem Fremdling auch mit dem sichersten Genuß aller gesellschaftlichen Rechte entgegenkamen, ihm die freyeste Äußerung seiner Kräfte und Talente gestatteten.
Diese Freygebigkeit gegen Fremde ist kein Unrecht für die alten Einwohner, das heißt, für die Bürger des Staats, deren Vorfahren schon seit einem gewissen Zeitraum in diesem Lande wohnten — sie ist Wohlthat für sie, und für die Regierung ist es Pflicht, diese Wohlthat zu erweisen. In eben dem Verhältnis, wie die Zahl ihrer Mitbürger sich vermehrt, erhalten auch diese älteren Einwohner mehr Mittel, sich zu nähren, ihren Wohlstand zu erweitern, ihr Leben sich bequemer und angenehmer zu machen. Der Werth ihrer Arbeit wird erhöhet, ihr Erfindungsgeist geweckt, ihre Einsicht sowie ihre Stärke gemehret.“

Der Lemgoer Christian Wilhelm Dohm in seinem Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781)

Aus Anlass des Fest- und Gedenkjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beleuchtet das Wochenblatt in diesem Online-Schwerpunkt das Themenfeld „Jüdisches Landleben in Westfalen“.


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