Das Wasser rauschte am Abend durch das Ahrtal.
Mit ungeahnter Macht bahnte es sich seinen Weg durch Ortschaften, riss ganze Häuser und Menschen mit sich. Als der Pegel wieder sank, blieb ein Chaos zurück. Die Aufräumarbeiten dauern auch ein Jahr danach noch an. Normalität? Fehlanzeige!
Sandsäcke füllen
Carola und Ansgar Fisang lebten zum Zeitpunkt der Flut in Dernau und betrieben dort eine Tankstelle. „Wir wussten, dass es regnen sollte und die Ahr mehr Wasser führen würde“, sagen sie. Noch bis in den frühen Abend des 14. Juli 2021 füllte Ansgar deshalb mit der Feuerwehr Sandsäcke. „Zu dem Zeitpunkt stand der Ort Schuld, 20 km flussaufwärts, schon fast unter Wasser“, schüttelt Ansgar den Kopf über die misslungene Krisenkommunikation. Als das Paar die Tankstelle gegen 21 Uhr schloss, stand das Wasser schon vor der Schiebetür. „Wir haben noch Ware hochgestellt, um sie zu schützen“, erzählt Carola. Gegen halb zehn gingen sie und ihr Mann ins angrenzende Wohnhaus, wo sie mit Ansgars 83-jähriger Mutter wohnten.
Während im Ahrtal der Pegel stieg, war Carolas Cousine, Melanie Fritsche, mit ihrer Familie auf dem Rückweg aus dem Urlaub. Die Familie aus Greffen im Kreis Gütersloh plante für das Wochenende einen Besuch in Dernau. Sie schrieben sich noch Nachrichten. Doch im Laufe des Abends brach die Telefonverbindung zur Verwandtschaft im Tal ab.
Zu der Zeit zogen Carola und Ansgar mit Mutter Irmgard bereits ins erste Stockwerk ihres Hauses. „Binnen einer halben Stunde war das Erdgeschoss mit Wasser geflutet“, erinnert sich Ansgar. Und das Wasser stieg weiter. Die drei retteten sich auf den Dachboden.
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Rette sich wer kann
„Bevor das Handynetz zusammenbrach habe ich noch einen Freund bei der Feuerwehr angerufen, um meine Mutter evakuieren zu lassen“, sagt Ansgar. Doch der Bekannte war zu Hause und sagte, jeder müsse sich nun selbst retten. „Da war für mich klar: Es geht um Leben und Tod“, sagt Ansgar.
Gegen ein Uhr in der Früh zählten Fisangs vom Dachboden aus noch fünf Stufen, die ihnen verblieben, eh das Wasser sie erreichen würde: „Wir hatten quasi schon die Dachpfannen in der Hand.“ Doch dann stagnierte der Pegel. Von Erleichterung dennoch keine Spur. Denn aus dem Fenster sahen sie, wie das Wasser Autos, Gastanks und sperriges Treibgut mit sich riss. Die drei verharrten auf dem Dachboden. Dann ging die Sonne auf.
Die Urlauber Melanie und Mario Fritsche hatten keine Zeit verloren. Noch im Morgengrauen fuhren sie los. Über Nebenstraßen und zig Umleitungen näherten sie sich Dernau. Fast hätten sie den Ort von oben nicht wiedererkannt. „Wir konnten nur das rote Dach der Tankstelle sehen“, erinnert sich Mario, der sich sogleich zu Fuß auf den Weg ins Tal machte. Melanie blieb mit dem gemeinsamen Sohn Fabian im Weinberg am Wohnmobil zurück. Unterwegs traf Mario Frank, einen Freund aus Bonn, der ebenfalls aus Sorge um Carola und Ansgar gekommen war. Zusammen gingen sie weiter. Doch noch stand das Wasser zu hoch, als dass sie die Tankstelle hätten erreichen können. So halfen sie Menschen entlang des Weges. Sie halfen Kindern, ihre Eltern wiederzufinden und trugen ältere Menschen in die sicheren Weinberge hinauf.
Fisangs warteten derweil im Obergeschoss auf Rettung. Die kam in Form eines Hubschraubers. „Einzeln, angeschnallt am langen Seil, schwebten sie in Richtung Sicherheit“, erzählt Carola. Andere Nachbarn mussten länger warten, aus den Wassermassen gerettet zu werden, wenn sie keinen Balkon hatten, der ein Anschnallen ermöglichte. Carola, Ansgar und Irmgard wurden im Weinberg abgesetzt. Zufällig genau auf dem, wo Mario und Frank warteten und schon andere Gerettete entgegengenommen hatten. „Wir waren erleichtert, mit dem Leben davongekommen zu sein“, fasst Ansgar seine Gefühle zusammen. So standen sie da: Ihr Wohnhaus und die berufliche Existenz unten im Tal, vom Wasser zerstört. Geblieben war ihnen nur, was sie am Leib trugen.
Abwischen reicht nicht
24 Stunden später war das Wasser so weit zurückgegangen, dass sie sich mit Mario und ersten Helfern zum Haus vorwagen konnten. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. Dicker, übel riechender Schlamm hatte sich festgesetzt. Während Ansgars Mutter anfangs noch davon sprach, den Schlamm einfach wegzuwischen, war den übrigen schnell klar, dass vom Mobiliar nichts zu retten sein würde. „Wir haben alles aus dem Haus getragen“, erzählt Mario. Sie schaufelten Schlamm – mit allem, was sie auf die Schnelle auftreiben konnten. Als Marios Vater kam, um Fabian abzuholen, brachte er Schaufeln, Schneeschieber und einfach alles, womit sich Schlamm aus Häusern schaufeln lässt. Das war der erste Hilfstransport aus Greffen. Es sollten noch unzählige unter Marios Federführung folgen.
Als die Straßen wieder ansatzweise passierbar waren, kamen die ersten Helfer ins Tal. „Manchmal gingen morgens Menschen an unserem Haus vorbei und fragten, ob wir Hilfe bräuchten“, erinnert Carola sich an die große Solidarität. „Ohne die Freiwilligen und die Bauern wären wir untergegangen“, sagt Ansgar, „im wahrsten Sinne des Wortes.“
Melanie und Mario ließen die Bilder, die sie gesehen hatten, nicht los. Wieder zu Hause in Greffen im Kreis Gütersloh starteten sie Aufrufe über die sozialen Medien und aktivierten ihr privates Netzwerk. „Die Unterstützung war unfassbar“, zieht Mario Bilanz. Soweit möglich fuhr er jedes Wochenende nach Dernau. Im Gepäck stets die von den Betroffenen erbetenen Spenden. Gerade zu Anfang waren das oft Werkzeug, Leitern und Bautrockner, aber auch Autos. Mario sammelte sie ein, übernahm den Transport und arbeitete vor Ort mit. Zusammen mit anderen Helfern spülte er Keller frei und stemmte Wände auf.
Das Leben neu sortieren
Ansgar und Carola brachten die geliehenen Bautrockner Anfang Juni, nach neun Monaten Dauerbetrieb, zurück. Sie hoffen, Weihnachten wieder zu Hause in Dernau zu feiern. Die Flut hat ihnen Haus und berufliche Existenz genommen. Carola arbeitet heute in einer Bäckerei, Ansgar in einer Staudengärtnerei. Sie wohnen zur Miete in Bad Neuenahr. Die Tankstelle bauen sie nicht wieder auf. „Die Flut war schlimm. Sie hat uns veranlasst, unser Leben neu zu ordnen“, sagt Carola, „wir wollen intensiver leben.“ Materielles hat an Wert verloren. Ansgar ergänzt: „Was zählt, hing am Seil des Hubschraubers: unsere Leben.“
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