Eigenes Land, kein Militärdienst, Religionsfreiheit und zehn Jahre keine Steuern – diese Versprechen ließ Katharina die Große vor genau 260 Jahren per Edikt in ganz Europa verkünden. Sie brauchte christliche und sesshafte Bewohner für die Weiten ihres Reiches. In den deutschen Kleinstaaten stieß die Zarin aus Anhalt-Zerbst auf offene Ohren. Zwischen 1764 und 1850 wanderten über 100 000 Deutsche aus und ließen sich vor allem am Schwarzen Meer und an der Wolga nieder.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrten 2,5 Mio. ihrer Nachfahren zurück nach Deutschland. In Russland waren sie die Deutschen. In Deutschland waren sie die Russen – die Erfahrung einer doppelten Fremdheit. Das Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold zeichnet seit mehr als 25 Jahren ihre Geschichte nach.
Ausgezogen, um frei zu sein
Die Dauerausstellung „Ausgepackt“ beschreibt das Auswandern, Einwandern und Umziehen. „Es gibt nicht die Russlanddeutschen“, sagt Sammlungskurator Nico Wiethof. Sie unterscheiden sich zum Beispiel in der Phase, in der sie nach Deutschland kamen. Auch die Religion ist ein Unterscheidungsmerkmal. Was sie eint ist die Migrationserfahrung. Daher sieht sich das Museum als Migrationsmuseum. Das wird deutlich an den Ausstellungskapiteln: „Reise ins Ungewisse“ und „Neue Heimat gefunden“ gliedern die Ausstellung.
Doch zurück ins 18. Jahrhundert: Per Schiff und Pferdefuhrwerk erreichten die Auswanderer ihr neues Siedlungsgebiet. Mancher Handwerker versuchte sich in der russischen Steppe als Bauer – einige scheiterten.
In ihrer neuen Heimat bildeten die Siedler über 100 Kolonien am Schwarzen Meer und an der Wolga. Sie waren in sich geschlossen und nach Konfessionen getrennt. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts blühte dort der Wohlstand. Manche Höfe hatten umfangreiche Ackerflächen mit guten Böden. Große Mühlen und Hersteller für Pflüge und anderes Gerät entstanden. Oft blieben die Kolonialisten unter sich und sprachen weiter Deutsch. „Es bildeten sich eigene Mundarten – zum Beispiel eine Mischung aus Hessisch und Pfälzisch“, sagt Nico Wiethof. Im Jahr 1818 gab es 550 deutsche Schulen im Zarenreich.
Feinde im eigenen Land
Mit dem Ersten Weltkrieg begannen die Repressionen gegenüber den Russen mit deutschen Wurzeln, obwohl viele zuvor in der Armee dienten.
Nach dem Sturz des Zaren keimte Hoffnung auf: Die Sowjets gründeten 1924 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Sie galten als anerkannte nationale Minderheit. Eine Kehrtwende setzte mit Beginn des Zweiten Weltkrieges ein. Vor allem nach dem deutschen Überfall 1941 wurden 1,2 Mio. Russlanddeutsche nach Sibirien und in andere entlegene Ecken der Sowjetunion verfrachtet, nicht wenige kamen in Straflager. Stalin fürchtete die Kollaboration mit der Wehrmacht.
Rückkehr zu den Wurzeln
Ab 1955 lockerten die Sowjets „die Verbannung auf ewig“. Viele Russlanddeutsche migrierten innerhalb der Sowjetunion, vor allem nach Kasachstan und Kirgisien. Erst in den 1970er-Jahren kam es zur verstärkten Ausreise in die Bundesrepublik, die sie als deutsche Staatsbürger anerkannte. Die wenigen Familien russlanddeutscher Herkunft, die gleich nach dem Krieg in Westdeutschland bleiben konnten, bildeten erste Anlaufpunkte. Ein Beispiel ist Detmold. Dort ließen sich viele Russlanddeutsche mennonitischen Glaubens nieder.
Die Mehrheit der Russlanddeutschen wanderte nach dem Zerfall der Sowjetunion aus. Ab 1993 wurden die Einwanderer offiziell als Spätaussiedler bezeichnet. Mitte der 1990er-Jahre kamen pro Jahr bis zu 200 000 Menschen ins Land. Berufsabschlüsse wurden auf dem Arbeitsmarkt oft nicht anerkannt. Gettobildung und Arbeitslosigkeit grassierten.
Mittlerweile sind viele Familien fest in die Gesellschaft integriert. Herausforderung ist die Politik Russlands. Während manche Gruppen der Kremlführung schon während der Sowjetzeit kritisch gegenüberstanden, hegen andere Sympathien für Putin. Aber auch hier gilt: Die typischen Russlanddeutschen gibt es nicht.
Private Sammlung wird Museum
Das Museum ist einmalig in der deutschen Museumslandschaft. Träger ist der Museumsverein für russlanddeutsche Kultur und Volkskunde, in dessen Vorstand auch Vertreter von Land und Bund sitzen. Was 1996 als private Sammlung begann, ist heute ein professionell geführtes Museum. Auch digital lässt sich durch die Ausstellungen stöbern. Vor Ort gibt es ein Escape-Game. Man spielt außerhalb der üblichen Öffnungszeiten.
Öffnungszeiten: dienstags bis freitags 14 bis 17 Uhr, samstags 11 bis 17 Uhr; erster Sonntag im Monat: 15 bis 18 Uhr
Eintrittspreise: 4 € für Erwachsene, 2 € für Ermäßigte und Kinder (ab 7 Jahre)
Adresse: Georgstraße 24, 32756 Detmold
Telefon: (0 52 31) 9 21 69 00www.russlanddeutsche.de
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