Etwa 300 000 Bauern waren unter den 6 bis 8 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges und danach auf den Weg nach Westen machten. Was sollte künftig ihre Lebensgrundlage werden? Ihnen eine neue bäuerliche Existenz zu ermöglichen, das war das erklärte Ziel zahlreicher Politiker, darunter der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke. Viele von ihnen hatten sich schon vor dem Krieg für eine gerechtere Verteilung des Bodens und eine „innere Kolonisation“, also die Gründung neuer Betriebe innerhalb der Landesgrenzen, eingesetzt.
Bodenreformer Heinrich Lübke
Zu den größten Treibern einer Bodenreform in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Heinrich Lübke. Von 1959 bis 1969 amtierte er als zweiter deutscher Bundespräsident. Vorher war der CDU-Politiker erst in Nordrhein-Westfalen, dann im Bund Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Lübke, als siebtes von acht Kindern eines Schuhmachers und Nebenerwerbslandwirts 1894 in Sundern-Enkhausen im Sauerland geboren, sah sich als Anwalt der Pächter und Kleinbauern, von Heuerlingen und Siedlern. Kein Wunder, dass ihn Großgrundbesitzer, vor allem adelige, als Gegenspieler und „roten Lübke“ sahen.
1949 erreichte er in NRW – auch nach langem Ringen mit der britischen Militärregierung – die Verabschiedung eines Bodenreform-Gesetzes. Es sollte Großbetriebe dazu zwingen, in gestaffelter Höhe und gegen Entschädigung Land abzugeben. Weil das nur eine Woche später verabschiedete Grundgesetz aber Enteignungen ausschloss, blieb das Gesetz wirkungslos.
Über 9000 neue Höfe
Zwischen 1947 und 1962 entstanden deshalb in allen vier Besatzungszonen landwirtschaftliche Neusiedlerstellen. In Nordrhein-Westfalen waren es bis 1955 exakt 9316 solcher Höfe. Wer sich auf Spurensuche begibt, der entdeckt viele – vor allem bauliche – Parallelen zwischen den neuen Höfen.
Intensiv hat das in den vergangenen Jahren Dr. Thomas Spohn, Architekt und Historiker aus Dortmund, getan. In der Zeitschrift „Westfälische Forschungen“ hat er 2021 einen Beitrag über „Bodenreform und Bauernsiedlung in Westfalen zwischen 1947 und 1962“ veröffentlicht. Sein Fazit: Der Umfang der Neuverteilung von Grund und Boden blieb deutlich hinter den Zielen zurück. Und die Betriebe wurden rasch von dem grundlegenden Wandel erfasst – man könnte auch sagen überrollt –, der sich ab den 1950er-Jahren auf dem Land vollzog. Aspekte sind Mechanisierung, Wachstum der Betriebe und Internationalisierung der Märkte.
15 ha für den Vollerwerb
Zu den 872 neuen Vollerwerbsstellen in Nordrhein-Westfalen zählten Betriebe mit mehr als 5 ha Land. Der „vollbäuerliche Familienbetrieb“ war nach dem damals herrschenden Ideal mit 15 ha arrondierter Nutzfläche ausgestattet. Für Nebenerwerbsstellen reichten 0,25 bis 2 ha.
Ziemlich genau 18 000 ha wurden damals in NRW neu verteilt, das waren weniger als 5 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Das meiste Land stammte aus adeligem Großgrundbesitz. Denn: Im Fokus stand privater Grundbesitz, der über 100 ha hinausging. In den drei westlichen Besatzungszonen traf das auf 0,6 bis 0,9 % der Betriebe zu. Viele der Besitzer wehrten sich ausdauernd und mit einigen Winkelzügen gegen die Landabgabe.
"Rote Erde" und "Rheinisches Heim"
Die Errichtung der neuen Betriebe übernahmen in NRW die schon 1916 ins Leben gerufenen gemeinnützigen Siedlungsgenossenschaften „Rote Erde“ in Westfalen und „Rheinisches Heim“ sowie die 1949 als Siedlungsgesellschaft des Deutschen Bauernverbandes gegründete „Deutsche Bauernsiedlung“. Über 205 Mio. Mark an öffentlichen Mitteln wurden allein in NRW ausgegeben, um den bäuerlichen Neustart zu ermöglichen.
Wer am Kauf einer der neuen Hofstellen interessiert war, musste den „Flüchtlingsschein A“ für Heimatvertriebene vorlegen. Außerdem war der „Siedlereignungsschein“ erforderlich. Er wies nach, dass die Familie einen Hof im Osten besessen hatte. „Kinderreiche Familien wurden bei der Vergabe bevorzugt, ledige oder alleinstehende Personen sowie ehemalige NSDAP-Mitglieder in den Gruppen der ‘Hauptschuldigen’ oder ‘Belasteten’ dagegen ausgeschlossen“, berichtet Thomas Spohn. Wer zum Zuge kam, konnte seinen finanziellen Anteil in der Regel über die Deutsche Siedlungsbank oder die Deutsche Landesrentenbank finanzieren.
Unter den neuen Siedlern waren auch viele, die ursprünglich aus dem Westen stammten und erst in den 1930er-Jahren nach Schlesien, Ostpreußen oder in andere östliche Provinzen gezogen waren.
Ähnliche Pläne
Die neuen Voll- und Nebenerwerbsstellen entstanden vielerorts nach ähnlichen Plänen wie schon vor dem Krieg. Denn nicht nur die Idealvorstellungen für Haupt- und Nebenerwerbsstellen waren nahezu dieselben geblieben. Auch bei den Architekten gab es Kontinuität.
Sie setzten meist Putzbauten in die Landschaft. Fachwerkelemente verschwanden im Laufe der 1950er-Jahre völlig. Für die Nebenerwerbsstellen waren einstöckige Siedlungshäuser mit einer Einliegerwohnung im Dachraum vorgesehen. Diese waren meist für mindestens zehn Jahre verpflichtend an Heimatvertriebene zu vermieten. Dazu kam ein Anbau für eine kleine Tierhaltung.
Mit Badezimmer, ohne Elektrifizierung
Die ersten neuen Vollerwerbsstellen versammelten Wohnen und Wirtschaften unter einer Firstlinie. Zwar gehörten inzwischen auch Wirtschaftsküche und Stalllüftung, Badezimmer und WC zum Raumprogramm, beschreibt Thomas Spohn. „Jedoch blieben Haus- wie Stalltechnik aus Kostengründen nicht selten hinter dem empfohlenen Standard zurück.“ So fehlten meist Elektrifizierung, Wasserver- und -entsorgung.
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